Die Ukrainer sind im russischen Angriffskrieg einer neuen Bedrohung aus der Luft ausgesetzt, die seit Juli allein in Cherson 24 Zivilisten getötet und Hunderte weitere verletzt hat: Sprengstoff-Drohnen auf Menschenjagd.
tgab
18.10.2024, 22:09
18.10.2024, 23:20
Gabriela Beck
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Neue Gefahr aus der Luft bedroht die Zivilbevölkerng in Cherson: mit Sprengstoff bestückte Drohnen streuen Granaten und tückische Mini-Minen auf die Stadt.
Das Problem: Die Killer-Fluggeräte sind zu klein und fliegen zu niedrig, als dass sie die ukrainische Luftverteidigung erfassen könnte.
Seit Juli kommt es jeden Monat zu Tausenden Angriffen, bei denen in Cherson 24 Zivilisten getötet und Hunderte verletzt wurden.
Sasha Ustenko hat drei Angriffe russischer Drohnen überlebt, die mit Splittergranaten durch die Strassen von Cherson patrouillieren und sie auf alles abwerfen, was sich bewegt. Der erste Anschlag zielte Ende Juli auf ein geparktes Polizeiauto im Zentrum von Cherson, gerade als Ustenko vorbeiging, und warf ihn zu Boden, erzählt er dem «Guardian».
Die zweite Sprengstoff-Drohne traf Mitte August einen Trinkwassertanker, als dieser in der Warteschlange für Vorräte stand, und tötete den Fahrer. Ustenko trug bei dem Vorfall eine Gehirnerschütterung davon.
Das dritte Mal, Ende September, hörte er das Killer-Flugobjekt über sich summen und rannte los, um unter den Zweigen eines Kirschbaums Schutz zu suchen. Er hoffte, dass die Blätter ihn verstecken würden, aber die Granate stürzte durch das Blätterdach und landete kaum einen Meter entfernt. Die Explosion riss seinen linken Zeigefinger auseinander. Da er Linkshänder ist, lernt er nun mit 51 Jahren wieder, mit der anderen Hand zu schreiben.
Wenn er spricht, versinken seine Sätze manchmal unter der Wirkung mehrerer Gehirnerschütterungen, und es fällt ihm schwer, aufzustehen, weil sein Rücken immer wieder durch die Druckstösse der Explosionen verletzt wurde.
Die Luftverteidigung kann die Mini-Drohnen nicht erfassen
Zwei Jahre nach der russischen Invasion in der Ukraine kämpfen Zivilisten in der Frontstadt Cherson mit einer neuen Bedrohung durch kleine zivile Drohnen, die für den Transport von Sprengstoff ausgelegt sind.
Seit die Fluggeräte im Juli begannen, die Stadt zu bombardieren, kam es jeden Monat zu Tausenden Angriffen, bei denen 24 Zivilisten getötet und Hunderte weitere verletzt wurden. Es regnete Granaten auf Busse und wartende Menschen an Bushaltestellen, auf Velofahrer und Personen, die sich für humanitäre Hilfe in Schlangen angestellt hatten, oder die wie Ustenko auf dem Heimweg vom Einkaufen waren.
Das Perfide: Die umfunktionierten Mavic-Drohnen sind zu klein und fliegen zu niedrig, als dass sie die ukrainische Luftverteidigung erfassen könnte. In China werden sie für Foto- und Videoaufnahmen hergestellt und auf Funkfrequenzen gesteuert, die die Anti-Drohnen-Systeme der Ukraine nicht blockieren können.
Im August habe es mehr als 2500 Angriffe gegeben, die überwiegende Mehrheit davon innerhalb der Stadt Cherson, sagt Oleksandr Tolokonnikov, ein Sprecher der Militärverwaltung von Cherson. Im September seien es mehr als 2700 Angriffe gewesen. Zwischen dem 1. Juli und dem 11. Oktober hätten Drohnen mehr als 400 Zivilisten verletzt, darunter sieben Kinder. Viele dieser Verletzungen hätten zu Amputationen geführt.
«Drohnen sind viel schlimmer als Artillerie»
Auch Dima Olifirenko, ein durch den Krieg in seiner Heimatstadt Cherson gestrandeter Seemann, wurde Opfer eines Sprengstoff-Drohnenangriffs. Er hat am Rand seiner Wange neben dem Ohr eine Reihe von Stichen, die von einer Granatenexplosion neben einer Bushaltestelle herrühren. «Ich habe die Drohne kommen hören, als der Bus ankam, aber ich dachte, sie würde dem Bus folgen, denn genau das tun sie, sie jagen die Busse», erzählt er. «Aber als der Bus losfuhr, war die Drohne immer noch da und mir wurde klar, dass sie mich erwischen würde, selbst wenn ich hinter dem Bus herlaufen würde. Es gab keinen Ort, an dem man sich verstecken konnte.»
Augenblicke später kam es zu einer Explosion, die eine Seite seines Körpers mit Schrapnells übersäte. Olifirenko hielt einen anderen Bus an, um ins Spital zu fahren, und eine Passagierin gab ihm ihre Jacke, um die Blutung zu stillen, so erzählt er es der britischen Tageszeitung. Er habe fast eine Stunde gebraucht, um ins Spital zu gelangen.
Viele Bewohner hatten sich mehr oder weniger an das Leben im Krieg mit der ständigen Bedrohung durch Beschuss gewöhnt, aber die Killer-Drohnen haben neue Angst in den Alltag gebracht. «Drohnen sind viel schlimmer als Artillerie, man hört den Abschuss und die Flugrichtung», sagte Olifirenko. «Mit einer Drohne ist der Tod plötzlich da, sie sieht dich und du bist erledigt.»
Der Fluss macht Cherson anfällig für Drohnenangriffe
In Cherson bildet der Fluss Dnipro die Frontlinie. Er trennt die ukrainischen von den russischen Streitkräften auf beiden Seiten. Dieser Umstand hat die Stadt vor einer umfassenden russischen Offensive geschützt, da ein Angriff über einen breiten Fluss hinweg äusserst schwierig ist. Da es diese natürliche Barriere aber Zehntausenden Zivilisten ermöglicht, nur wenige Kilometer von den russischen Streitkräften entfernt zu leben, macht sie die Stadt auch besonders anfällig für Drohnenangriffe.
Die Reichweite der neuartigen Sprengstoff-Drohnen beträgt bis zu 15 Kilometer, sodass sie über den Fluss und zurück fliegen können. Sie sind klein und günstig genug, dass Russland eine grosse Zahl davon stationieren kann. Und während es für die Killer-Geräte schwierig sein könnte, an gut getarnten Frontlinien militärische Ziele aufzuspüren, ist es ein Leichtes, Zivilisten im Alltag zu finden und zu treffen.
«Dies ist eine systematische, gut geplante Operation zur Zerstörung des zivilen Lebens in Cherson», sagt Serhii Kuzan, Vorsitzender der Denkfabrik Ukrainisches Zentrum für Sicherheit und Zusammenarbeit und ehemaliger Berater des ukrainischen Verteidigungsministeriums. «Das Ziel dieser hybriden Kriegsführung besteht nicht darin, auf dem Schlachtfeld zu gewinnen, sondern darin, die Zivilbevölkerung zu vernichten, damit die Regierung entweder verhandelt oder kapituliert.»
Neuerdings verstreuen die Drohnen Minen in der Stadt
Einige Drohnen verstreuen neuerdings kleine Antipersonen-Minen auf Strassen und öffentlichen Plätzen. Die Minen sind weniger als zehn Zentimeter lang und enthalten etwa 40 Gramm Sprengstoff – genug, um jedem, der eine aufhebt oder darauf tritt, die Hand oder den Fuss abzutrennen.
Ustenko erntet kein Gemüse mehr auf dem Feld, das er hinter seinem Haus angelegt hat. «Ich habe Angst, in den Garten zu gehen, weil dort so viel Unkraut ist, das Minen verbergen könnte.» Da sich keine Minenräumer in die gefährdeten Viertel wagten, hätten die Einheimischen ihre eigenen höchst amateurhaften Minenräumtechniken entwickelt, sagt Olifirenko. Manche Leute schiessen demnach mit Schrotflinten auf die Minen, andere versuchen, sie mit Ziegeln zu schlagen. Am methodischsten seien lange Holzbretter. «Man legt sich auf den Boden, schützt das Gesicht mit den Armen und schiebt das Brett in Richtung der Mine, bis sie explodiert.»
Die einzige Art der Luftverteidigung, auf die sich ukrainische Zivilisten derzeit verlassen können, ist das Wetter – die Killer-Drohnen haben bei Regen und starkem Wind schlechte Karten.