Lagebild RusslandKiew dreht Spiess in Kursk um – und stellt Putin vor ein Dilemma
Philipp Dahm
11.8.2024
Vorstoss der Ukraine nach Russland: Moskau kündigt «Anti-Terror-Einsätze» an
STORY: Ein am Freitag im ukrainischen Telegrammkanal veröffentlichtes Video soll ukrainische Soldaten zeigen, die eine Gasmessanlage in der russischen Stadt Sudzha in der Region Kursk kontrollieren. In dem Video erklären die Soldaten, dass sie auch die Stadt Sudzha kontrollieren. Die ukrainischen Streitkräfte hatten am Dienstag die russische Grenze durchbrochen und waren in Teile der russischen Region Kursk vorgedrungen. Offenbar war es Russland bislang nicht möglich, die ukrainischen Soldaten über die Grenze zurückzudrängen. Das russische Verteidigungsministerium teilte am Samstag mit, dass es Panzer in das Grenzgebiet von Kursk zur Ukraine entsandt habe. Angesichts des ukrainisches Vorstosses auf russisches Gebiet hat Moskau «Anti-Terror-Einsätze» in drei Grenzregionen angekündigt. In den Regionen Kursk, Belgorod und Brjansk würden «Anti-Terror-Einsätze» gestartet, um die Sicherheit der Bürger zu gewährleisten, teilte das russische Anti-Terror-Komitee mit. Die ukrainischen Behörden in der nordöstlichen Region Sumy haben die zwangsweise Evakuierung von 28 Siedlungen innerhalb einer 10 Kilometer langen Grenzzone angeordnet. Zuvor soll Russland den Einsatz von gelenkten Luftangriffen in dem Gebiet intensiviert haben. Ukrainische Freiwillige halfen bei der Evakuierung von Dorfbewohnern und ihren Haustieren. Nach Angaben der ukrainischen Polizei müssen 20.000 Menschen ihre Heimat verlassen. Angesichts des ukrainischen Vorstosses auf das russische Gebiet Kursk warnt die Internationale Atomenergie-Behörde IAEA vor möglichen Gefahren für das dortige Kernkraftwerk. Der IAEA-Generaldirektor Rafael Grossi rief beide Seiten auf, sich an die Regeln für die nukleare Sicherheit in Konfliktgebieten zu halten. Das staatliche russische Kernenergieunternehmen Rosatom teilte am Samstag mit, das Kernkraftwerk sei im Normalbetrieb.
11.08.2024
Welche Ziele verfolgt die Ukraine mit der Kursk-Offensive? Warum das AKW Kursk kriegsentscheidend sein könnte, warum Putin vor einem Dilemma steht – und warum Kiew ihm seine eigene Medizin verabreicht, erfährst du hier.
Philipp Dahm
11.08.2024, 21:29
11.08.2024, 21:35
Philipp Dahm
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Am Montag war die Front noch statisch: Vor der US-Wahl hat keiner mehr mit einer ukrainischen Offensive gerechnet.
«Erstklassige Truppen und erstklassige Ausrüstung»: Darum ist Kiews Kursk-Vorstoss kein PR-Stunt.
Darum könnte die Eroberung des AKWs Kursk kriegsentscheidend sein – und darum ist sie gleichzeitig unwahrscheinlich.
Neuralgische Punkte in Sidscha: Das hat die Ukraine schon erreicht.
Putins Dilemma: Rekruten opfern und Protest riskieren oder Armee abziehen und eigene Offensiven abbrechen?
Kiew dreht mit diesem Vorgehen den Spiess der Taktik um, die Russland bei der Charkiw-Offensive angewendet hat.
Am Anfang dieser Woche noch sind die Fronten in der Ukraine scheinbar verhärtet. Wenig bewegt sich: Nur in Donezk frisst sich die russische Armee mühsam vor. Wie ein Damoklesschwert schwebt der 5. November über dem Schlachtfeld.
Russland will bis zur US-Präsidentenwahl möglichst viel Fläche einnehmen, um bei einem Wahlsieg von Donald Trump und einem folgenden Friedenspoker Verhandlungsmasse auf der Hand zu haben. Die Ukraine spart ihre Kräfte – ebenfalls für den Fall, dass der Republikaner ins Weisse Haus einzieht – und weitere Waffenlieferungen in weitere Ferne rücken.
Von wegen: Kiews Kräfte überqueren am Dienstag, den 6. August die Grenze nach Russland. Zunächst sind es 300, dann 1000 Soldaten, die in russisches Kernland eindringen, wie Moskau einräumt. In den folgenden drei Tagen werden die Behörden dort nicht weniger als sechs Mal verkünden, dass jene ukrainische Einheiten besiegt worden seien.
«Sie würden nicht erstklassige Truppen einsetzen, wenn es ihnen nicht ernst wäre»
Doch Kiews Vorstoss ist kein PR-Stunt. Die Grenzverteidigung ist schlecht, obwohl drei Milliarden Rubel für ihren Ausbau bereitgestellt wurden. Das erinnert an Russlands Offensive in Charkiw und einen entsprechenden Skandal auf ukrainischer Seite. Weil in Kursk vor allem Rekruten stationiert sind, die ein Jahr in der Armee dienen müssen, keine Erfahrung haben und unmotiviert sind, ergeben sich die Russen scharenweise.
Dir Ukrainer sind gekommen, um zu bleiben – zumindest vorerst. Es sollen um die 10'000 Soldaten und 600 Fahrzeuge sein, die die Grenze überqueren. Sie rücken mit Drohnen-Abwehr und westlichem Gerät wie dem Schützenpanzern Marder und Bradley vor.
Sie kämpfen sich an drei Strassen entlang, die ihren Nachschub sichern. Und gleichzeitig nehmen eigene Drohnen und Artillerie den Nachschub des Gegners unter Feuer.
Ukraine-Krieg: Video zeigt ausgebrannte russische Militärlaster in Kursk
Diese Video-Aufnahmen sind über soziale Medien veröffentlicht und von der Nachrichtenagentur Reuters verifiziert worden. Der Film zeigt einen Konvoi ausgebrannter russischer Militärlastwagen in der südrussischen Grenzregion Kursk. Die Fahrzeuge stehen entlang einer grossen Strasse. Auf dem Video sind rund 15 Lastwagen zu sehen.
10.08.2024
Es seien kompetente ukrainische Einheiten am Werk, weiss der britische Sicherheitsexperte Michael Clarke: «Sie würden nicht erstklassige Truppen und erstklassige Ausrüstung einsetzen, wenn es ihnen nicht ernst wäre», sagt er «Sky News» und ergänzt, dass auch Minenräumer und Pioniere im Einsatz seien, die bereits Befestigungen anlegen würden.
AKW Kursk könnte kriegsentscheidend sein
Was will Kiew mit der Offensive erreichen? Ein lohnendes Ziel ist das Kernkraftwerk Kursk, das nur 50 Kilometer von der Grenze entfernt ist. Der Grund: Der drittgrösste russische Meiler ist der Schlüsselversorger der zentralen Schwarzerde-Region mit Energie – und dort wird 48 Prozent des Eisenerzes, 13,5 Prozent des Stahls, 19 Prozent der Eisenmetalle, 9 Prozent des Fleisches und 19,5 Prozent des russischen Zuckers hergestellt.
Sprich: Wenn das AKW Kursk offline ginge, hätte Wladimir Putins Rüstungsindustrie ein ernstes Problem. Doch gerade angesichts dieser Bedeutung ist es unwahrscheinlich, dass Kiew einen solchen Husarenstreich durchführen – oder der Kreml ihn zulassen würde. Doch ausschliessen lässt sich das Szenario auch nicht.
I do agree with this thread by @Schizointel on the railway network.
Vielleicht hat Kiew sein Ziel auch schion erreicht: Im eroberten Sudscha befindet sich nicht nur ein wichtiger Gasprom-Verteilerknoten für Erdgas-Pipelines, sondern auch eine wichtige Stromleitungen und eine Bahnlinie, die Lgow und Belgorod verbindet.
Putins Dilemma
Für Wladimir Putin ist Kiews Offensive ein Unding, das innenpolitisch ein schlechtes Licht auf den Präsidenten wirft: Kann er das Vaterland nicht verteidigen? Die Eindringlinge nicht zurückzudrängen, könnte ihm als Schwäche ausgelegt werden. Das stellt den 71-Jährigen vor ein Dilemma.
Ukrainian soldiers evacuated a damaged Stryker IFV from the Kursk region in Russia, how is that even possible? 😆 pic.twitter.com/xbAlf3Qcfa
Bekämpft er die Invasoren mit russischen Rekruten, drohen ihm ob deren militärischer Naivität hohe Verluste. Das könnte Unruhe in jenen Teilen der Bevölkerung schüren, die bisher keinen Kontakt mit dem Krieg hatten – wie den städtischen Eliten in Moskau und St. Petersburg.
Seine Armee heuert dagegen ihre Soldaten mit hohen Prämien an, die – neben dem etwaigen «Todes-Bonus» – ihre Familien mitunter aus finanzieller Not befreien. Protest oder Widerstand hat der Kreml aus diesem Segment nicht zu erwarten. Das Problem: Zieht Putin die Soldaten ab, fehlen sie ihm bei seinen Offensiven in Donezk und Charkiw.
Kreml muss Truppen abziehen
Der St. Petersburger hat sich offenbar entschieden. Zum einen hat Michael Clark bemerkt, dass russische Truppen, die nach Kursk verlegt werden, abgenutztes Gerät haben – im Gegensatz zu Rekruten. Gleichzeitig gibt es Meldungen über einen Rückzug der Russen aus Wowtschansk in Charkiw.
Interessant ist, dass Kiew damit den Spiess umgedreht hat: Russlands Offensive in Charkiw hat ukrainische Truppen gebunden, was Moskaus Armee den Weg in Donezk geebnet hat. Während die Ukrainer ihre Grenze verteidigen musste, hat der Gegner Posten abgezogen – in der falschen Erwartung, der wage es nicht, Bodentruppen gen Russland zu schicken.
Nun stehen die Ukrainer in Putins Heimat, und der muss nun seinerseits Soldaten umgruppieren. Seine Devise, besetzte Gebieten müssten auch annektiert werden, ist ad absurdum geführt. Kiews Streitkräfte rücken in Kursk weiter vor. Und die Woche endet in der Ukraine damit so ganz anders, als sie begonnen hat.
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