Von Attacke bis Vergeltung Drei Szenarien eines russischen Konflikts mit der Nato

Von Philipp Dahm

10.2.2024

Erklärt: Putins Problem mit der Nato

Erklärt: Putins Problem mit der Nato

Die Ukraine verlangt Russlands Armee mehr ab als vom Kreml erwartet. Doch das eigentliche Ziel Wladimir Putins ist das Zurückdrängen der Nato: Die europäische Tiefebene ist der Schlüssel zu Moskaus Sicherheit.

14.06.2022

Wie könnte die Lage zwischen der Nato und Russland eskalieren? Wo würde Moskau zuerst tätig werden? Und wie könnte ein begrenzter Militärschlag des Kreml aussehen? Dazu drei Gedankenspiele.

Von Philipp Dahm

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Keine Panik: Für Streitkräfte ist es «militärisches Alltagsgeschäft», sich mit Szenarien eines Konflikts zu beschäftigen – in diesem Fall mit Russland.
  • Ein Bundeswehrszenario beschreibt eine Eskalation zwischen Nato und Russland in fünf Phasen vom jetzigen Zeitpunkt bis zum Sommer 2025.
  • Hybride Kriegsführung wie Cyberattacken, die russische Minderheiten im Baltikum und die Suwalki-Lücke spielen eine Rolle.
  • Ein britisches Szenario imaginiert einen Krieg zwischen Nato und Russland im Jahr 2044 – inklusive Cyberkrieg und Angriff auf die Suwalki-Lücke.
  • Eine kalifornische Denkfabrik zeigt vier Möglichkeiten auf, wie Russland im begrenzten Masse die Nato als Vergeltung für die Ukraine-Hilfe attackieren könnte.

Die Spannungen zwischen Russland und der Nato bewegen: Ein Post auf X, der das Bild eines potenziellen Krieges zwischen beiden nachzeichnet, wird in zwei Tagen mehr als 1,1 Millionen Mal gesehen.

Die Darstellung im britischen «Telegraph» beruht auf einem geheimen Bundeswehrpapier, über das «Bild» berichtet hat. Darin wird das Szenario eines Konflikts beschrieben, der in fünf Phasen eskaliert. In der Verschlusssache mit dem Titel «Bündnisverteidigung 2025» beginnt der Konflikt im jetzigen Februar.

Eskalation in fünf Phasen bis Sommer 2025

In der ersten Phase mobilisiert Russland 200'000 weitere Soldaten, startet eine Offensive in der Ukraine und rückt dort vor.

Mit der zweiten Phase beginnen in den baltischen Staaten im Juli zunächst verdeckte und dann immer offener hybride Angriffe wie etwa Cyberattacken. Die russischen Minderheiten in Estland, Lettland und Litauen werden aufgewiegelt.

In der dritten Phase nimmt Moskau die resultierenden Unruhen im Herbst zum Anlass, ein Grossmanöver mit 50'000 Soldaten im Westen des Landes und Belarus abzuhalten. Gleichzeitig wird die Exklave Kaliningrad aufgerüstet.

In Phase vier wird im Dezember an der Suwalki-Lücke, die Kaliningrad mit Belarus verbindet, ein «Grenzkonflikt» heraufbeschworen, bei dem es zu «Ausschreitungen mit zahlreichen Toten» kommt, zitiert «Bild» aus dem Dokument. Die USA sind mit den Wahlnachwehen beschäftigt. Die Krise wird Thema im UN-Sicherheitsrat und in der Nato.

In der fünften Phase nimmt Russland die angespannte Lage zum Grund, ab März weitere 70'000 Soldaten in den Westen zu verlegen. Die Nato reagiert im Mai 2025 mit «Massnahmen zur glaubhaften Abschreckung», um einen Angriff bei der Suwalki-Lücke zu verhindern.

Gedankenspiele als «militärisches Alltagsgeschäft»

Am «Tag X» wird die Verlegung von 300'000 Soldaten an die Ostflanke beschlossen. 30 Tage nach diesem Tag endet das Bundeswehrszenario. Mehr als eine halbe Million Soldaten stehen sich auf engem Raum gegenüber: Ob es zum Krieg kommt, lässt das Gedankenspiel offen.

Ein Eurofighter Typhoon der Royal Air Force fängt eine russische Tu-95 ab und eskortiert sie aus dem Luftraum.
Ein Eurofighter Typhoon der Royal Air Force fängt eine russische Tu-95 ab und eskortiert sie aus dem Luftraum.
imago images/ZUMA Wire

Laut Tass mochte Kremlsprecher Dmitri Peskow den «Bild»-Bericht nicht kommentieren. Aussenamtssprecherin Marija Sacharowa nannte ihn ein «Horoskop vom letzten Jahr». Die Bundeswehr selbst betont in der «Bild», es gehöre «zum militärischen Alltagsgeschäft», dass man «unterschiedliche Szenarien, und seien sie auch extrem unwahrscheinlich», betrachten müsse.

Das deutsche Gedankenspiel deckt sich jedoch mit einem Szenario der britischen «Daily Mail». Auch hier beginnt der imaginierte Konflikt mit hybrider Kriegsführung. «Ich könnte mir vorstellen, dass die Russen eine massive Cyberstörung unserer Infrastruktur kreieren würden», sagt Ben Hodges.

Vier Szenarien eines russischen Vergeltungsangriffs

Zur ersten Phase könnten auch Angriffe mit Hunderten Langstrecken-Präzisionsraketen gegen zivile Ziele in ganz Europa kommen, glaubt der frühere US-General. In einer zweiten Phase erfolgt auch in diesem Szenario ein russischer Angriff auf die Suwalki-Lücke, die die einzige Landverbindung vom Baltikum ins weitere Nato-Territorium ist.

Nach einem Angriff aufs Baltikum würde Wladimir Putin abwarten, wie der Westen reagiert, so Hodges. Sollte er Estland, Lettland und Litauen nicht beistehen, würde der Kremlchef nicht stoppen, ist sich der Amerikaner sicher. Das «Daily Mail»-Szenario geht jedoch von einem Krieg erst im Jahr 2044 aus, bei dem KI-Panzer das Baltikum aufrollen und das Nordpolarmeer zum Schlachtfeld wird.

Im Hier und Jetzt bewegen sich dagegen die Szenarien, die die Rand Corporation ins Spiel bringt. Die kalifornische Denkfabrik hat sich mit vier Möglichkeiten eines begrenzten russischen Angriffs beschäftigt. Szenario A beschreibt einen Marschflugkörperangriff auf ein Militärdepot in Polen, Szenario B den Abschuss eines amerikanischen Spionagesatelliten. Die Aktionen werden jeweils als Vergeltung für die Unterstützung Kiews gerechtfertigt.

Während es bei diesen Gedankenspielen keine Verluste und mässigen Schaden gibt, könnte es bei Szenario C rund zwei Dutzend Opfer unter Militärangehörigen geben, wenn Russland drei Militärflughäfen in Polen und Rumänien, über die Nachschub für die Ukraine kommt, mit Raketen beschiesst. Szenario D wäre eine Marschflugkörper-Attacke auf sechs wichtige Nato-Basen inklusive Ramstein und Rotterdam mit bis zu 200 Toten.