Eine Reisewarnung in fünf Punkten Vergesst Berlin!

Michael Angele, Berlin

17.3.2024

Berlin: Stadtführung vor dem Brandenburger Tor. (Symbolbild)
Berlin: Stadtführung vor dem Brandenburger Tor. (Symbolbild)
Bild: Keystone

Du willst endlich mal oder endlich wieder mal Berlin? Überleg dir das gut, denn blue News Autor und Wahl-Berliner Michael Angele weiss: Die Stadt hat viel von ihrer viel gerühmten Sexiness eingebüsst. Eine Abrechnung in fünf Punkten.

Michael Angele, Berlin

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Berlin – für viele Reisende ein Sehnsuchtsort. 
  • Doch die Stadt hat viel von ihrer Sexiness eingebüsst, weiss blue News Autor Michael Angele.

Für Schweizerinnen und Schweizer ist Berlin seit Jahrzehnten ein Sehnsuchtsort. Der lieblose Auftritt der Stadt an der Internationalen Tourismus Börse (ITB), die vergangene Woche in Berlin stattfand, ändert daran natürlich nichts. Im hintersten Winkel der letzten der Messehallen warb man für die «Capital Region Berlin-Brandenburg».

Das touristische Highlight in diesem Jahr soll «35 years City of Freedom» sein. Wer ein 35-Jähriges «Jubiläum» zum Höhepunkt erklären muss, hat normalerweise ein Problem. Nicht so Berlin.

Man hätte auch «zehn Jahre Mall of Berlin» nehmen können, was immerhin ein rundes Datum gewesen wäre, oder der 19. Todestag von Harald Juhnke. Oder sonst was. Dem Berlin-Hype ist das egal. Er ist ein Selbstläufer geworden, der mit der Realität nur noch bedingt zu tun hat. Berlin ist nicht mehr Berlin. Deshalb hier eine Reisewarnung in fünf Punkten:

Image

«Berlin ist arm, aber sexy», lautet der geniale Spruch, den der damalige Bürgermeister Klaus Wowereit 2003 in die Welt setzte. «Wowi» selbst verpasste keine Party in der Hauptstadt, lächelte jungenhaft wie John F. Kennedy in die Kameras, sagte «Ich bin schwul und das ist auch gut so», und demonstrierte so, dass in Berlin wirklich jeder nach seiner Façon glücklich werden kann. Mehr Image ging nicht.

Der aktuelle Bürgermeister heisst Kai Wegner. Slogans sind von ihm nicht überliefert, das erste, was einem bei seinem Namen einfällt, ist der Name seines Hundes (Caspar).

Neulich hat er seine Beziehung zur Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch eingestanden, und so den von überlaufenen Ämtern, streikenden Busfahrern und steigenden Mieten gestressten Berlinern eine Debatte über die Probleme der Liebe am Arbeitsplatz aufgenötigt. Das ist, was in Berlin von «arm, aber sexy» und Kennedy geblieben ist.

Kunst und Kultur

Nach der Wende bildeten alternative Kultur und Stadt eine organische Einheit. Die Kunst entstand aus ihren noch offenen Wunden. Das Symbol dafür war das Tacheles in der Oranienburger Strasse. Wie so viele Gebäude in Berlin erzählte auch dieser Bau eine Jahrhundertgeschichte. Ursprünglich Teil der Friedrichstadtpassagen, war es Kaufhaus, Nazigebäude, DDR-Funktionsgebäude. 1990 rettete es eine Besetzung vor der Sprengung.

Es folgte eine wilde Zeit, Eisenskulpturen, Techno und jeden Tag ein neues Bild von Jim Avignon. 2006 wurde das Tacheles vom «Sommermärchen» erfasst. Während der Fussballweltmeisterschaft feierten die Fan-Massen auf der Brache hinter dem Tacheles. Dort stehen heute von den Schweizer Architekten Herzog und de Meuron entworfene Luxusbauten mit Luxuswohnungen.

Das Tacheles selbst wurde kernsaniert. Der Investor hatte die Auflage, in Erinnerung an das alte Tacheles einen Ort der Kunst zu schaffen. Die Wahl fiel auf eine schwedische Fotogalerie. Mit einer Fotogalerie kannst du nichts falsch machen. Interessante KünsterInnen aus aller Welt zeigen ihre «Arbeiten». Die Galerie hat bis 23 Uhr geöffnet.

So viel ist vom alten Lebensgefühl geblieben.

History

Okay, es war immer klar, dass Berlin irgendwann einmal eine fast normale Stadt werden würde. Der Preis für ihr Anderssein war sehr hoch: Ein Weltkrieg und eine menschenverachtende Mauer. Die Zeugnisse dieser Geschichte werden zwar weniger, sind aber noch da. Es kommen sogar welche wieder, die weg waren. Das Berliner Schloss zum Beispiel, das vier Jahrzehnte lang dem Palast der Republik weichen musste, der 2008 unter dem Vorwand der Asbestverseuchung abgerissen wurde.

DDR-Geschichte im Stadtbild war nicht erwünscht, schon gar nicht Unter den Linden. Hinter der barocken Fassade des wiederaufgebauten Sitzes der Hohenzollern befindet sich das Humboldt-Forum, das ein Problem mit seinen kolonialen Sammlungen hat.

Gegenüber vom Hauptportal entsteht ein Denkmal. Es ist nicht ganz klar, wie es eigentlich heisst. In manchen Quellen ist vom «Bürger in Bewegung» die Rede, andere sprechen vom «Einheitsdenkmal», wieder andere vom «Einheits- und Freiheitsdenkmal». Jedenfalls: eine begehbare Wippe.

Ursprünglich sollte sie 2013 eingeweiht werden. Aber Probleme mit Umweltschutz, Denkmalschutz und der Finanzierung führten dazu, dass die Wippe immer noch nicht fertig ist. Wenn Berlin ein «Denkmal» bräuchte, das auf der Höhe der Zeit ist, dann eines, der den Zusammenbruch jeder Planung durch eine Mischung aus Überkomplexität und Inkompetenz reflektiert. Wem das alles zu blöd ist, der findet fussläufig das Bud Spencer Museum Unter den Linden 10 – dort, wo bis vor kurzem der Showroom von Ferrari war.

Shopping

Man macht eine Städtereise natürlich auch, um zu shoppen. Laut der oben zitierten Umfrage trifft das auf Schweizerinnen und Schweizer besonders zu. Wenn mein Vater mich in Berlin besuchte, gingen wir gern in die Delikatessenabteilung des KaDeWe.

Hier trafen Touristen, Zugereiste und das Westberliner Bürgertum zwanglos aufeinander, man hörte viel Russisch. Die Bar unter dem Dach hatte etwas Weltstädtisches und Heimeliges zugleich. Solcher Art sind die magischen Orte einer Stadt. Leider können die Achtziger-Jahre nur in den Berliner Radiosendern ewig weitergehen. Also wurde das KaDeWe komplett renoviert.

Heute sieht es im Erdgeschoss aus wie in der Duty-Free-Abteilung des BER-Flughafen und unter dem neuen Glasdach wie am Berliner Hauptbahnhof. Dass René Benko das KaDeWe mit in seinen Abgrund riss, kommt dazu. Es ist insolvent. Die tiefe Krise des Kaufhauses als Erlebnis- und Konsumort trifft nicht nur Berlin, aber Berlin trifft sie besonders hart.

Die Galerie Lafayette zieht sich aus Berlin zurück, in das elegante Gebäude an der Friedrichstrasse soll die Stadtbibliothek kommen. Die Galeria 205 bis 207 neben dem Lafayette steht fast komplett leer. Immerhin etwas für Liebhaber von Ruinentourismus. Dass die Friedrichstrasse ziemlich am Ende ist, hat natürlich auch mit der «Mall of Berlin» am Potsdamer- respektive Leipziger Platz zu tun. Hier findet der geneigte Städtereisende jede, aber auch wirklich jede Kette, die er in einer beliebigen anderen Grossstadt auch finden würde.

Hotels

Gibt es wie der sprichwörtliche Sand am Meer. Denn das eigentliche Problem von Berlin ist, wie die eingangs zitieren Zahlen verdeutlichen, der Overtourism. Unter den Touristenmassen leiden natürlich vor allem die Menschen, die hier wohnen. Die Lösung, die Berlin vorschwebt, ist es, die Touristen auf die Aussenbezirke zu verteilen. Zum Beispiel nach Pankow. Hier wohne ich, und erhole mich gern im Schlosspark um die Ecke.

Wäre schön, wenn das so bliebe. Eigentlich müssten doch auch die Touristen selbst am Overtourism leiden. Will man nur noch sich selbst begegnen, wenn man eine Stadt erkundet?

Es gibt Alternativen. Hamburg zum Beispiel, das zweitbeliebteste deutsche Ziel unter den Schweizer Städtereisenden. Das Flair der Hansestadt scheint unzerstörbar, dennoch sei Overtourism an der Elbe praktisch kein Thema, sagen Experten.


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