Im Schlafwagen durch die Türkei Im Zug von Ankara bis an die armenische Grenze

DPA/tjb

6.10.2019

Mehr als tausend Kilometer in fast 25 Stunden. Der Ost-Express von Ankara nach Kars ist in der Türkei ein Phänomen geworden. Die Reisenden zelebrieren Nostalgie, Gemeinsamkeit und ein wenig Kitsch.

Tugay Cicek hängt sich aus dem fahrenden Zug und kommt dem Boden gefährlich nahe. Mit einer Hand klammert er sich an der offenen Waggontür fest, in der anderen hält er sein Telefon und macht ein Selfie.

Der Zug rattert am Fluss Euphrat entlang, der sich durch die Osttürkei schlängelt. Der Fahrtwind zerrt an Tugays Mütze. Der Alarm schrillt, ein Zugbegleiter mit schwarzem Schnauzer kommt um die Ecke geschossen. «Das ist verboten», ruft er, scheucht Tugay weg und verriegelt die Tür.

Doch der 23-jährige Student aus dem westtürkischen Balikesir hat bekommen, was er wollte: Nervenkitzel und ein Foto, das er später auf seinem Instagram-Account teilen kann. Unter dem Hashtag #doguekspresi (Ost-Express) tauchen dann seine Bilder von dem Zug auf, der inzwischen ein Phänomen in der Türkei geworden ist.



1300 Kilometer in 24 Stunden und 30 Minuten: Der Ost-Express startet von der türkischen Hauptstadt Ankara und fährt bis nach Kars an die armenische Grenze. Dabei durchkreuzt er sieben Provinzen und fährt grosse Strecken am Fluss Euphrat entlang. Jeden Tag startet der Express um 18:00 Uhr in Ankara und ist laut Plan am darauffolgenden Tag um 18:30 Uhr in Kars, oft aber auch mit Verspätung.

Die Beliebtheit steigt

Die Nachfrage nach dem Ost-Express ist so gross, dass es inzwischen sogar einen zweiten Ost-Express gibt, extra für Touristen. Der allerdings fährt dieselbe Strecke in 32 Stunden, weil er zwischendurch Halt macht, und er ist wesentlich teurer.

Keine Option für Tugay, der den klassischen Express bevorzugt. Die Lokomotive zieht sieben Schlafwagen, für zwei beziehungsweise vier Personen, drei Grossraumabteile und einen Speisewagen.

Nach Abfahrt ist es nicht mehr lange hell. Doch interessant wird die Landschaft ohnehin erst am nächsten Morgen. In der Provinz Sivas geht die Sonne auf. Das Gelände wird bergig und wilder. Auf den Gipfeln am Horizont liegt Schnee – je weiter der Zug gen Osten fährt, desto mehr. «Ich studiere Tourismus, bin aber noch nie aus der Westtürkei herausgekommen», sagt Tugay. Der Zug sei die Gelegenheit dazu.

Fahrkarten sind schnell ausverkauft

Tickets für die Schlafwagen sind schwer zu ergattern. Tugay und seine Freundin Sadberk Silan hatten Glück und haben ein Vierer-Abteil komplett reserviert. Dort haben die Studenten auch einen kleinen Weinvorrat angelegt. Denn Alkohol wird in der staatlichen Bahn nicht verkauft, da wird der Einfluss der konservativen Regierung spürbar.



In der Provinz Erzincan fährt der Zug durch eine Schlucht. Der Strom des Euphrats wird hier breiter, das Wasser ist türkis, glatt und still. Die von der Sonne angestrahlten Berge spiegeln sich darin – ein Postkartenmotiv.

Enver Erem kommt ins Abteil und ruft Tugay in den Speisewagen, wo die Fenster grösser sind und die Aussicht besser. Er trägt eine orangene Mütze und hat ein farblich passendes Tuch um den Arm gewickelt. Der 30-Jährige ist Kosmetiker und reist viel, wie er sagt. Der Vorteil des Zuges: «Man sieht nicht nur einen, sondern viele schöne Orte, und das bleibt als Erinnerung.»

Erst auf der Fahrt hat er sich mit Tugay und Sadberk angefreundet. Gegen Mittag ist es so, als würden sie sich schon ewig kennen. Zur Gruppe gesellt sich noch der 22-jährige Recep Okur, der extra aus dem südosttürkischen Diyarbakir für die Zugfahrt angereist ist.

Zug fährt schon seit vielen Jahren

Den Ost-Express gibt es schon seit den 30er-Jahren, er startete ursprünglich sogar in Istanbul. Seit etwa zwei Jahren ist er populär bei Türken, aber auch bei Ausländern. Verantwortlich für den Hype sind vor allem Instagram-Videos und -Fotos, die zeigen, wie sich der Zug durch traumhafte Landschaften schlängelt, geteilt von Menschen, die auf der Reise offensichtlich jede Menge Spass haben.



Nostalgie wird im Zug zelebriert und das auch mit ein wenig Kitsch: Vier Studentinnen aus Samsun haben Fotos in Polaroidoptik in ihr Abteil gehangen, aufgereiht an einer Wäscheleine vor dem Fenster. Daneben baumeln Lichterketten und Girlanden. Blumen, Teelichter und Kassetten verzieren den ausklappbaren Tisch.

Fahrgäste tanzen durch den Zug

Im Waggon Nr. 9 tanzt die 46-jährige Tülay Özcelik zu türkischer Musik von Abteil zu Abteil. Sie trägt einen rot-weissen Pulli mit Rentier-Motiv und weisser Jeans. Unter einer roten Mütze quellen die blonden Haare hervor.

Özcelik sagt, sie habe ein ganzes Jahr auf diese Fahrt hingefiebert. Nun, da sie endlich ein Ticket hat, soll alles perfekt sein. Sie teilt sich mit ihrer 50-jährigen Freundin Hülya Meydan einen Zweier-Schlafwagen, den die Frauen in rot und weiss dekoriert haben. «Die Fahrt ist sehr schön, mitten durch die Natur», sagt Özcelik. Ausserdem lerne man schnell Leute kennen und schon am zweiten Tag fühle es sich an «wie eine Familie».

Viele schauen sich die Stadt Ani an

Die beiden Frauen sind seit 25 Jahren befreundet und gemeinsam schon durchs halbe Land gereist, wie sie sagen. Özcelik weiss auch bestens Bescheid über die Endstation Kars. Sie schwärmt vom Cildir-See, der etwas mehr als eine Stunde Autofahrt ausserhalb vom Stadtzentrum liegt. Oft ist der See noch bis Mitte März zugefroren.

Die meisten nutzen die Reise, um sich Ani anzuschauen, die «Stadt der 1001 Kirchen» direkt an der türkisch-armenischen Grenze. Seit 2016 ist Ani Unesco-Weltkulturerbe. Im 10. und 11. Jahrhundert war Ani Hauptstadt eines armenischen Reiches und wichtige Station an der Seidenstrasse. Heute liegt die Stadt in Ruinen und Armenien direkt gegenüber. Ein Grenzfluss, der durch eine Schlucht fliesst, trennt die beiden Länder. Die Grenze ist seit 1993 geschlossen.



Kars ist ausserdem berühmt für seinen Käse, so wie jede Provinz, durch die der Zug zuckelt, für irgendetwas bekannt ist. In Sivas etwa werden die Kangal-Hirtenhunde gezüchtet. Die Menschen in Kayseri, sagt eine Passagierin, «malen einen Esel an und verkaufen ihn als Kuh», soll heissen: Dort kommen die besonders gerissenen Geschäftsleute her. Erzurum wiederum ist berühmt für seinen «Cag-Kebabi». Deswegen ist Kebab bestellen eine Tradition im Zug.

Die Reise inspiriert

Traditionen im Ost-Express gibt es ohnehin viele, etwa allerlei Arten von Waggontänzen, die die Reisenden meist zur türkischen Musik aufführen. Wer damit ursprünglich angefangen hat, weiss niemand so genau. Irgendjemand hat es zuerst auf Instagram geteilt, die anderen zelebrieren es nach.

Tugay, Sandberk und ihre neu gewonnenen Freunde finden die Tänze eher albern. Von der Reise sind sie aber begeistert. In Kars wollen sie zwei Nächte übernachten und nach Ani und zum Cildir-See fahren. Ausserdem hat Tugay Gefallen an Zugreisen gefunden und plant eine Fahrt mit dem Süd-Express. Der bringt die Reisenden nicht zu den Stränden nach Antalya, wie der Name vermuten lässt, sondern in den Südosten. Auch da war der Student noch nie.

Die Bilder des Tages
Zurück zur Startseite