Tabuthema bei Ärzt*innenSex macht gesund – wieso sprechen wir nicht mehr darüber?
Von Michelle de Oliveira
24.6.2023
Sex ist nicht nur gesund, sondern hilft auch bei Krankheiten. Unsere Sexualität unterstützt uns dabei, besser mit Erkrankungen umzugehen – und gewisse Leiden frühzeitig zu erkennen.
Von Michelle de Oliveira
24.06.2023, 00:00
Michelle de Oliveira
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Sex ist nicht nur gesund, sondern kann auch bei Krankheiten helfen. In der Gesundheitsvorsorge ist dies trotzdem kaum ein Thema.
Studien zeigen jedoch, dass eine befriedigende Sexualität die Lebensqualität steigern kann.
«Wir sind heute sexuell so befreit wie noch nie», erklärt Sexologin Stefanie Gonin-Spahni von der Universität Bern. «Aber das bedeutet nicht, dass die Menschen damit auch kompetent umgehen können.»
Warum gelten zum Beispiel Depressionen als Volkskrankheit, sexuelle Probleme aber nicht?
Fakt ist: Sex aktiviert den gesamten Körper und erhöht den Herzschlag, was die Durchblutung fördert und gesund ist für das Herz-Kreislauf-System.
«Und wie steht es um Ihr Sexualleben?» Diese Frage hören Patientinnen und Patienten selten von ihrer Ärztin.
Viel zu selten, findet Stefanie Gonin-Spahni. Sie ist Psychologin und Sexologin an der Universität Bern: «Weltweit zeigen Befragungen, dass die Sexualität für Menschen unterschiedlichsten Alters wichtig ist, und zwar bis zum Tod. Dennoch ist sie kaum Thema in unserer Gesundheitsversorgung.»
Und das, obwohl Studien belegen, dass eine befriedigende Sexualität die Lebensqualität steigern kann und es sogar Hinweise darauf gibt, dass Menschen länger leben, wenn sie sexuell aktiv sind.
Zur Autorin: Michelle de Oliveira
Bild: zVg
Michelle de Oliveira ist Journalistin, Yogalehrerin, Mutter und immer auf der Suche nach Balance – nicht nur auf der Yogamatte. Ausserdem hat sie ein Faible für alles Spirituelle. Sie lebt mit ihrer Familie in Portugal und arbeitet regelmässig als Kolumnistin für blue News.
Bedeutet das also, dass wir alle so viel Sex wie möglich haben sollten, um gesund zu bleiben? «So einfach ist es nicht», sagt Expertin Gonin-Spahni.
Aber klar ist, und da sind sich Fachleute einig: Das Thema Sex muss in der Gesundheitsversorgung endlich mehr Platz bekommen. Denn die Sexualität ist so viel mehr als Lust und Leidenschaft.
Sie kann kranken Menschen zu einem besseren allgemeinen Wohlbefinden verhelfen und ihren Krankheitsverlauf positiv beeinflussen. Und sie hat auch früh-diagnostische Qualitäten – bei denen zahlreiche Hightech-Geräte einpacken können: Wer einen gesunden Umgang mit der eigenen Sexualität erlernt, erkennt rasch, falls sich dort etwas verändert. Und diese Veränderung ist oftmals ein Frühindikator für eine Erkrankung.
Sexualität als Teil der Gesundheitsversorgung
Aber fangen wir vorne an: Wie gut kennen Sie Ihre eigene Sexualität? «Wir sind heute sexuell so befreit wie noch nie», erklärt Sexologin Gonin-Spahni. «Aber das bedeutet nicht, dass die Menschen damit auch kompetent umgehen können.»
Wenn es zum Beispiel darum geht, sexuelle Anliegen oder Beschwerden bei einer Fachperson anzusprechen, fehlen oft die Worte: Viele wissen etwa gar nicht, wie sie ihre Geschlechtsteile in der Arztpraxis benennen sollen.
Darum liege es auch in der Verantwortung der Fachpersonen, die sexuelle Gesundheit bei Patientinnen und Patienten anzusprechen – als Teil der Gesundheitsversorgung, sagt Stefanie Gonin-Spahni.
Damit das in Praxen und Spitälern zunehmend Realität wird, bietet sie Weiterbildungskurse für Fachpersonen aus dem Gesundheitswesen an. Die Sexualkunde ist nötig.
Denn: Bisher wird sich in der Gesundheitsversorgung vor allem auf die negativen Aspekte der Sexualität wie sexuell übertragbare Infektionen, ungewollte Schwangerschaft oder sexualisierte Gewalt fokussiert. «Diese Themen sind natürlich enorm wichtig», erklärt Gonin-Spahni. «Aber die positiven Aspekte sind genauso relevant.»
Dazu zählen mitunter die physischen Vorteile: Sex aktiviert den gesamten Körper und erhöht den Herzschlag, was die Durchblutung fördert und gesund ist für das Herz-Kreislauf-System. Ausserdem werden Neurotransmitter ausgeschüttet, also jene Hormone, die Glücksgefühle verursachen und Schmerzen lindern. Und zwar unabhängig davon, ob man Sexualität alleine oder mit anderen erlebt.
Die Gesundheitsstudie
Die vierte Ausgabe des «Sanitas Health Forecast» trägt den Titel «Das ist deine Energie» und will ermutigen, die persönliche Energiewende anzutreten. Die jährlich erscheinende Publikation kommt als Coffee-Table-Book daher und wird im Wörterseh-Verlag herausgegeben. Das Buch enthält neben dem Report «Sex macht gesund – wieso sprechen wir nicht mehr darüber?» viele weitere Texte plus zudem die neusten Erkenntnisse der ersten Studie zur Gesundheit der Zukunft, für die jährlich 2000 Schweizer*innen befragt werden. Für die Inhalte ist eine Redaktion aus 30 unabhängigen Journalist*innen verantwortlich. Unter diesem Link kannst du das 400-seitige Buch für 19.90 Fr. bestellen.
Frauen trainieren bei regelmässigem Geschlechtsverkehr ausserdem den Beckenboden – das kann Probleme mit Gebärmuttersenkungen reduzieren und Inkontinenz vorbeugen. Aber auch Männer profitieren: Es gibt Studien, die besagen, dass häufiges Ejakulieren die Gesundheit der Prostata fördert. Und für alle gilt: Menschen, die regelmässig intimen Kontakt haben, verfügen häufig über ein positiveres Körperbild.
Wer also ein verantwortungsbewusstes Sexleben pflegt, tut sich etwas Gutes. Dabei ist nicht die Häufigkeit entscheidend, sondern vielmehr die Zufriedenheit.
Und dort hapert es bereits: Die kürzlich publizierte Studie «Gesundheit und Sexualität in Deutschland» zeigt, dass im Nachbarland rund jeder dritte Mann unter sexuellen Funktionsproblemen leidet, am häufigsten unter frühzeitiger Ejakulation und Erektionsproblemen.
Depressionen gelten als Volkskrankheit, sexuelle Probleme aber nicht
Ausserdem geht aus der Studie hervor, dass fast die Hälfe aller Frauen Schwierigkeiten in der Sexualität hat, zum Beispiel nur selten oder gar nicht zum Orgasmus kommt oder unter Schmerzen beim Sex leidet.
«Betrachtet man, wie viele Menschen unter ihren sexuellen Funktionsproblemen leiden, kommen wir auf rund zehn bis fünfzehn Prozent der deutschen Bevölkerung. Hierzulande fehlen repräsentative Zahlen, sie dürften jenen aus Deutschland aber sehr ähnlich sein», sagt Gonin-Spahni.
Die Expertin ordnet ein: «Ähnlich viele Menschen leiden unter Depressionen. Dort reden wir von einer Volkskrankheit. Aber wir haben noch nie etwas von der Volkskrankheit ‹Sexuelle Probleme› gehört.»
Sexualität wird also noch immer viel zu oft als vernachlässigbarer Luxus betrachtet. Betroffene fürchten dadurch häufig, als triebgesteuert oder sexfixiert zu gelten, wenn sie ihre sexuellen Probleme ansprechen.
Dabei wäre genau das so wichtig: Ein unerfülltes Sexualleben kann nicht nur zur psychischen Belastung werden, sondern auch ein unerkannter Hinweis für eine Erkrankung bleiben.
Womit wir beim zweiten Bereich der noch immer oft verkannten Bedeutung der Sexualität wären: Sex als frühdiagnostisches Signal. Die Wissenschaft weiss, dass etwa Erektionsprobleme Vorboten eines Herzinfarkts oder eines anderen Herzereignisses sein können.
Sie können aber auch auf Diabetes, eine Schilddrüsenfehlfunktion, multiple Sklerose, Parkinson oder psychische Erkrankungen hinweisen. Allgemeines Stresserleben, gedrückte Stimmung oder mangelndes Selbstwertgefühl etwa können Vorboten einer Depression sein.
Sex hilft Menschen mit chronischen Krankheiten
«Während sich die Depression noch nicht als Krankheit manifestiert und diese somit noch nicht diagnostiziert werden kann, können sich die Symptome aber bereits auf die Sexualität auswirken, typischerweise als mangelndes oder etwa bei einer Borderline-Persönlichkeitsstörung auch als gesteigertes Verlangen», erklärt Gonin-Spahni.
Erkennen Betroffene oder Fachpersonen diese Veränderung und gehen ihrem Ursprung auf den Grund, kann eine Krankheit früher erkannt werden.
Wichtig dabei sei, sagt Sexologin Gonin-Spahni, dass man nicht in Panik verfalle, wenn die Sexualität mal abnehme. Denn das Sexualleben kommt in wellenartigen Bewegungen und verändert sich ein Leben lang. Die Expertin rät, eigene Beobachtungen und Unsicherheiten mit einer Fachperson zu besprechen.
Sex kann also als Hinweis für eine Veränderung in der Gesundheit dienen. Aber er ist auch enorm wichtig für Menschen, die chronisch krank sind. Trotzdem werden Patientinnen und Patienten im Rahmen ihrer Behandlung kaum zur Sexualität beraten – obwohl man weiss, dass die Krankheitsbewältigung von einer gesunden Sexualität profitiert.
«Zum Beispiel hat die Sexualität einen Einfluss darauf, wie gut sich Betroffene an einen Behandlungsplan halten», sagt Gonin-Spahni. Denn: Zahlreiche Medikamente senken die Libido oder verursachen Erektionsstörungen. Ist das der Fall, tendieren Patientinnen und Patienten eher dazu, die Medikamente unregelmässig oder im schlimmsten Fall gar nicht mehr einzunehmen.
Werden sie aber damit nicht alleine gelassen und erfahren zum Beispiel, auf welche Arzneien sie ausweichen und wie sie einen anderen Umgang mit ihrer Intimität finden können – etwa, indem sie mehr auf den Austausch von Zärtlichkeiten statt auf die Penetration fokussieren –, ist ihre Therapiebereitschaft grösser.
«Sexualität und Intimität ist wichtig für die Lebensqualität»
Davon ist auch Claudia Steurer-Stey überzeugt: «Der Mensch hört mit einer Krankheit nicht auf, ein sexuelles Wesen zu sein», sagt sie. «Sexualität und Intimität sind wichtige Aspekte der Lebensqualität – und zwar lebenslänglich.»
Claudia Steurer-Stey ist Fachärztin für Innere Medizin und Lungenkrankheiten. An der Universität Zürich erforscht sie das Thema in Zusammenhang mit Menschen, die unter COPD – der chronisch ob struktiven Lungenerkrankung – leiden.
«COPD bringt beschwerliche Symptome wie Husten, Auswurf und Atemnot mit sich. Vor allem Letztere macht den Betroffenen, aber auch den Partnern Angst und führt häufig dazu, dass Sexualität gemieden wird», erklärt Steurer-Stey.
Umso wichtiger ist es für die Fachärztin, dass auch bei dieser Krankheit das Sex-Tabu gebrochen wird. Die Nachfrage nach Beratung ist da: Eine Untersuchung hat jüngst gezeigt, dass jede zweite von COPD betroffene Person das Bedürfnis hat, über Sexualität zu sprechen.
Sex in der Medizin – noch immer ein Tabu
Aktuell führt ein Team um Ärztin Steurer-Stey an der Universität Zürich eine Studie durch, die untersucht, wie sich die Kommunikation über Sexualität auf die Lebensqualität und die körperliche Aktivität von Menschen mit COPD auswirkt.
Denn gerade bei COPD ist es für die Lebensqualität und das Überleben enorm wichtig, die körperliche Aktivität aufrechtzuerhalten. Ein wichtiger Aspekt – und vielleicht sogar Motivationsfaktor – kann die Sexualität sein, davon ist Claudia Steurer-Stey überzeugt und ergänzt:
«Es ist an der Zeit, Klischees und Tabus abzulegen und chronisch kranken Menschen ihre Sexualität nicht abzusprechen – sondern sie anzusprechen.»
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