GelassenheitWilhelm Schmid: «Der Sex ist im Alter viel lustvoller»
Von Bruno Bötschi
2.10.2017
Philosoph und Bestsellerautor Wilhelm Schmid spricht über das Älterwerden, sagt, warum der Sex ab 50 lustvoller ist und verrät, was er in seinem Leben weniger gut gemacht hat.
«Bluewin»: Herr Schmid, Sie wurden im vergangenen April 64. Wie hat sich Ihr Körper heute beim Aufstehen gefühlt?
Wilhelm Schmid: Wie jeden Morgen: Er kommt schwer in die Gänge. Ich habe jedoch ein Ritual entwickelt, das es mir leichter macht, aufzustehen. Gymnastische Übungen gehören dazu, duschen und eine ausgiebige Körperpflege. Danach bin ich voll da.
Wie gelassen sind Sie im Moment?
Relativ gelassen.
In Ihrem Büchlein «Gelassenheit – Was man gewinnt, wenn man älter wird» listen Sie 10 Schritte zu mehr Gelassenheit auf. Das Buch hielt sich sage und schreibe 145 Wochen in der «Spiegel»-Bestsellerliste, davon 18 Wochen auf Platz 1. Hat Sie dieser Erfolg überrascht?
Total. Ich schrieb das Buch, weil ich dachte: Wenn mir diese 10 Schritte helfen, helfen sie vielleicht auch anderen Menschen. Als das Buch dann vom Fleck weg derart viel Anklang fand, war ich total von den Socken.
Gelassenheit – was ist das eigentlich?
Die Grundlage dafür ist, frei zu sein von zu grosser Unruhe. Aber Achtung, das ist nicht identisch damit, völlig in Ruhe zu sein. Leben bedeutet Unruhe. Ich jedenfalls wünsche mir nicht in völliger Ruhe zu sein, bevor ich nicht von diesem Leben abtrete.
Frei von zu grosser Unruhe: Wie schaffe ich das?
Indem ich zum Beispiel meine Massstäbe überprüfe. Was erwarte ich von mir, was erwarte ich vom Leben und was von der Welt? Erwarte ich, dass jeden Tag alles problemlos funktioniert? Dann habe ich viele Gelegenheit zu leiden. Erwarte ich vom Leben, dass alles positiv ist? Nochmals eine Gelegenheit zu leiden. Erwarte ich von mir, dass ich der perfekte Mensch bin? Eine dritte Gelegenheit, sehr schwer zu leiden.
Im Buch schreiben Sie, Ihre Mutter sei Ihnen ein Vorbild in Sachen Gelassenheit gewesen. Sie soll bemerkenswert anders gelebt haben.
Viele ältere Menschen sind nicht gelassen. Die rennen zwischen Kreuzfahrten und sonstigen Verpflichtungen hin und her. Meine Mutter hatte nichts von alledem. Sie lebte im Alter ein Leben, das ihr offenbar Freude machte. Dabei war sie früher eine strenge Mutter und überhaupt nicht gelassen. Sie hatte wenig Spass am Leben. Ab 60 änderte sich das, sie wurde eine zufriedene, heitere, ja geradezu zärtliche Frau. Ich habe den Eindruck, ihre Enkel brachten ihr nahe, dass eine Umarmung etwas Schönes sein kann. Und dann hat sie das auch tatsächlich auf ihre erwachsenen Kinder übertragen. Wir alle, wir sind sechs Geschwister, hatten viel Freude daran.
Sie sind demnach nicht mit dem US-amerikanischen Schriftsteller Philipp Roth einverstanden, der in seinem Roman «Jedermann» den Satz schrieb: «Das Alter ist kein Kampf; das Alter ist ein Massaker.»
Wer leiden möchte, soll das so sehen. Ich möchte nicht leiden. Ich habe deshalb für mich einen Spruch von Karl Valentin abgewandelt. Er sagte: «Ich freue mich, dass es regnet, denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch».
Wie heisst Ihre Version?
Ich freue mich, wenn ich älter werde, denn wenn ich mich nicht freue, werde ich auch älter.
Grundsätzlich: Ist das Thema Alter in unserer Gesellschaft zu negativ besetzt?
Ja. Die Jüngeren sehen das Alter sowieso negativ, das war bei mir nicht anders. Aber auch viele Ältere sehen das Alter negativ, weil sie nur die Verluste sehen. Natürlich, Älterwerden heisst verlieren – an Kraft, an Lebensmöglichkeiten, an Perspektiven. Keine Frage. Aber gibt es nicht auch Gewinne? Fest steht, jedes Leben wird beendet, irgendwann. Es gibt keine Auswahlmöglichkeit. Akzeptiere ich das, kann ich mich auf die Gewinne konzentrieren.
Von welchen Gewinnen reden Sie?
Die sind so offenkundig, dass ich mich wundere, warum Menschen diese willentlich übersehen wollen. Lüste werden schöner. Ich brauche nicht mehr so wie ein junger Mensch Quantität. Ich kann mich vollkommen auf die Qualität konzentrieren.
Das klingt jetzt sehr theoretisch.
Nehmen wir den Wein als Beispiel: Wenn ein Mensch jung ist, das galt auch für mich, darf es gerne eine ganze Flasche sein, mit Freunden zusammen auch zwei oder drei. Seit ich älter bin, merke ich: ein oder zwei Gläser reichen. Und die schlürfe ich langsam und geniesse jedes Molekül.
Gilt das auch beim Sex?
Wir können offen reden: Auch ich habe diese Lustquelle in jungen Jahren genutzt bis zum Anschlag. Weil die Hormone im Alter nachlassen, wird der Sex vielleicht weniger. Dafür ist die Erfahrung intensiver und sorgt für grössere Lust, die länger nachwirkt.
Aber man muss auch jemanden haben, mit dem man im Alter Sex haben kann.
Dafür kann man frühzeitig Sorge tragen. Aber Sie haben natürlich recht: Das Schicksal können wir nicht ausschalten. Das gehört zum Älterwerden: Einzusehen, dass ich vieles machen kann im Leben, aber nicht alles.
«Mit 50 ist ein Neuanfang noch möglich, mit 60 beträchtlich schwieriger, mit 70 schier unmöglich.»
Wilhelm Schmid
Als Junger lebt man mit Tempo, im Alter wird alles langsamer: Wie drosselt man das Tempo, ohne aus der Kurve zu fallen?
Da gibt es nur ein einziges Geheimnis: freiwillig drosseln. Wenn ich es nicht freiwillig mache, drosselt das Leben mich, in dem es mein Herz in Schwierigkeiten bringt und mir durch körperliche Schmerzen vor Augen führt: Du bist zu schnell unterwegs. Aber ich kann frank und frei sagen: Mir sind viele älterwerdende Menschen zu langsam unterwegs.
Das müssen Sie erklären.
Die gehen zu langsam, stehen im Weg rum (lacht laut). Ich weiss, ich sollte mir bewusst sein, dass ich in zehn Jahren anderen auch im Weg stehen werde. Aber im Moment hilft mir das nicht, ich bin nach wie vor gerne stramm unterwegs.
Was sind die wichtigen Zutaten für das Leben ab 50?
Ab 50 ist es wichtig sich einmal eingehend zu fragen: Was wollte ich vom Leben? Welche Vorstellungen hatte ich in jüngeren Jahren? Was habe ich erreicht und was nicht? Was möchte ich noch erreichen von dem, was mir wichtig ist? Und was bin ich bereit dafür zu tun? Oder ist mir die Gewohnheit bereits wichtiger geworden? Das wäre auch vollkommen akzeptabel.
Geht es etwas konkreter, bitte?
Zutaten zum Leben ab 50, spätestens ab 60: Mehr als bisher Gewohnheiten pflegen. Das spart Kräfte. Viel Berührung suchen, macht gelassener. Freundschaft geniessen und in Erinnerungen schwelgen. Und der Musse frönen. Das ist sehr kreativ und produktiv.
Was heisst das in einer Partnerschaft?
Die Frage zu stellen: Ist in dieser Beziehung real geworden, was ich mir erhofft habe? Wenn nein, was kann ich dafür tun, dass das real wird? Oder habe ich jede Hoffnung verloren? Will ich neu anfangen? Mit 50 ist ein Neuanfang noch möglich, mit 60 beträchtlich schwieriger, mit 70 schier unmöglich.
Der deutsche Sänger Konstantin Wecker sagte in einem Interview: «Ein grosser Vorteil des Alters ist, man denkt nicht dauernd an das, was morgen passiert, man ist mehr in der Gegenwart als in der Jugend.»
Selbstverständlich ist es im Alter möglich, noch oft nach vorne zu schauen, aber man muss darauf gefasst sein, dass man da vorne eine Wand sieht. Das könnte einer der Gründe sein, warum man viel lieber zurückschaut. Ein halbes Leben lang hören wir, wir sollen nach vorne sehen. Deshalb leiden viele ab 50, wenn es ihnen nicht mehr gelingt. Der Blick biegt sich von selber um und geht rückwärts. Was war in meinem Leben? Welche Freunde habe ich aus den Augen verloren? Gab es einmal eine Liebschaft, die mir wichtig war?
Zurückschauen ist also okay?
Natürlich. Das ist ein grosser Gewinn des Älterwerdens: Ich muss jetzt nicht mehr in Unruhe darüber sein, was einmal aus mir werden wird. Es ist was aus mir geworden, wenn vielleicht auch nicht das, was ich mir gewünscht habe. Hinter mir liegt eine Wirklichkeit und die ist, wie sie ist. Im günstigen Fall ist es ein Felsblock, auf dem ich mich ausruhen kann. Im ungünstigen Fall sind es Krücken, die mich stützen. Danach kann ich wieder nach vorne blicken und sagen: Das war in meinem Leben und jetzt möchte ich noch etwas Anderes erleben.
Ist Gelassenheit im Alter eigentlich auch eine gute Antwort auf die Flüchtlingskrise und die vielen Terroranschläge?
Gelassenheit ist eine Frage des Massstabes. Erwarte ich in einer Welt zu leben, in der Friede herrscht, alle sich verstehen und niemand etwas Böses tut? Das könnte schwierig werden. Gab es in der Geschichte überhaupt schon so eine Zeit? Nein. Gab es schon schlimmere Zeiten in der Geschichte? Da fällt mir der Zweite Weltkrieg ein. In so einer Zeit leben wir heute immerhin nicht. Wollen wir vielleicht auch einmal dankbar dafür sein, dass genügend kluge Leute existieren, die heute solchen Unfug nicht anrichten. Das ist keine Garantie für die Zukunft, aber so wie ich das aktuell sehe, ist das auch nicht in unseren Händen. Die aktuellen Probleme spielen sich in anderen Weltregionen ab.
Sie sprechen viel von den schönen Seiten des Alters. Trotzdem haben viele Menschen Angst vor dem Alter und vor dem Sterben. Warum?
So einem Menschen würde ich sagen: Natürlich kannst du Angst haben, aber du wirst trotzdem älter. Du kannst darauf verzichten, dich übermässig zu ängstigen. Denn sei dir gewiss, es geht alles wie von selbst. Du musst nichts dafür tun, um aus diesem Leben rauszukommen. Du kannst aber Sorge dafür tragen, dass die Zeit bis dahin eine schöne Zeit wird.
Wie zum Beispiel?
1. körperliche Bewegung, 2. körperliche Bewegung, 3. körperliche Bewegung. Die körperliche Bewegung ist absolut elementar für das seelische und geistige Befinden. Das ist nicht die Erfindung eines Philosophen, sondern das sagt einem jeder Hausarzt. Körperliche Bewegung ist das A und O eines verträglichen Befindens. 4. gute Ernährung. Sei nicht gleichgültig dem gegenüber, was du in deinen Körper aufnimmst. Das ist ein ganz intimer Akt. Das Essen wird Teil deines Körpers, entsprechend haben wir mehr oder weniger Beschwerden. Und 5. gute Beziehungen. Mit guten Beziehungen werden wir eindeutig verträglich älter und wir erreichen ein höheres Alter. Es gibt viele Langzeit-Untersuchungen, alle mit dem gleichen Resultat: Menschen in guten Beziehungen leben länger.
Wie gut und wie selbständig ich im Alter lebe, ist aber auch eine Frage des Geldes.
Das stimmt, will ich gar nicht klein reden. Da sind noch einige gesellschaftliche Verbesserungen nötig. Aber wir sollten alles im richtigen Mass lassen: In unserer Gesellschaft gibt es niemanden, der gar kein Geld hat. Sogar ein Obdachloser bekommt noch immer Geld vom Staat und auch, wenn er will, ein Dach über dem Kopf für die Nacht. Insofern reden wir von relativer Armut und nicht von absoluter Armut. Und auch hier lässt sich sagen: Sei dir frühzeitig bewusst, dass du älter wirst und dass dies auch eine Geldfrage ist. Nicht nur, aber auch. Und deshalb achte darauf, dass du etwas Geld auf die Seite legen kannst.
«Ich bin sehr früh Vater geworden und habe das bei den ersten beiden Kindern nicht sehr gut gemacht.»
Wilhelm Schmid
Mit 64 befinden Sie sich in der dritten Phase des Lebens. Sie nennen diese in Ihrem Buch «agiles Altern». Wenn Sie zurückblicken: Wie zufrieden sind Sie mit Ihrem Leben?
Teils zufrieden, teils nicht, wie vermutlich viele andere Menschen auch. Einige Dinge habe ich gut gemacht, manche vielleicht sogar sehr gut. Andere Dinge habe ich schlechtgemacht, manche sogar sehr schlecht. Und trotzdem habe ich in der Summe den Eindruck: Mein Leben ist in Ordnung.
Was haben Sie weniger gut gemacht?
Ich bin sehr früh Vater geworden und habe das bei den ersten beiden Kindern nicht sehr gut gemacht. Ich habe mit meiner Frau noch ein drittes und viertes Kind bekommen und da habe ich es, scheint mir, aufgrund der früheren Erfahrungen eindeutig besser gemacht. Heute kann ich nur darauf hoffen, dass meine beiden älteren Jungs nicht sauer sind und mir dies nachsehen.
Haben Sie sie gefragt?
Ja.
Und?
Sie sehen es mir nach. Sicherlich auch aus der Einsicht heraus, dass es bei ihnen, wenn sie selber Kinder kriegen, am Anfang auch schwierig sein könnte - mangels Erfahrung.
Eingangs sagten Sie, Sie seien auch mit 64 noch gerne schnell unterwegs. Bleibt die Frage: Wie wollen Sie die vierte Phase Ihres Lebens gestalten, das «fragile Alter»?
Die vierte Phase wird schwierig. Ich habe einen Bruder, der zehn Jahr älter ist als ich. Das hat den Vorteil: Ich kann sehen, wo ich wahrscheinlich in zehn Jahren stehen werde. Und ich sehe, dass es ab 70 körperlich beschwerlicher wird. Es kommen Gebrechen, kommen Krankheiten, und – ganz schlimm – immer häufiger Stürze. Ich versuche mich deshalb bereits heute auf diese Zeit vorzubereiten. Meine Frau und ich leben zum Beispiel in einer Wohnung, in die wir mit dem Aufzug hochfahren können. Aber die vierte Lebensphase wird, ganz fraglos, eine schwierige und ganz am Ende sogar eine sehr schwierige.
Wie alt möchten Sie werden?
Neulich sagte ich zu meiner Frau, ich habe vor, noch 50 Jahre zu leben. Sie meinte dann: «Was, 50 Jahre?» Ich schloss daraus, 50 Jahre scheinen ihr etwas zu viel zu sein (lacht laut). Ernsthaft: Ich kann nur unwesentlich selber bestimmen, wie alt ich werde, deshalb überlasse ich diesen Entscheid dem Leben.
Was halten Sie von Sterbehilfe?
Wenn es sehr, sehr schlimm und schwierig würde für mich selber und für meine Mitmenschen, was vermutlich in strikter Relation steht, könnte ich mir das vorstellen. Aber wirklich nur im äussersten Fall. Und auch dann nur in dem Sinne, auf Essen und Trinken zu verzichten.
Denken Sie mit 64 öfters ans Sterben als mit 50?
Gerade gestern fiel mir auf: Als ich jung war, habe ich hundertmal am Tag an Sex gedacht. Heute denke ich hundertmal am Tag an den Tod.
Sind es schreckliche Gedanke?
Überhaupt nicht. Ich bin Philosoph, es können deshalb auch sehr ausgiebige Gedanken sein. Manchmal ist es Neugierde: Was wird da sein? Häufig sind es auch Gedanken, die ich in meinen Büchern niederschreibe. Manchmal ist es auch Erschrecken, wenn ich andere Menschen sehe, die es sehr, sehr beschwerlich haben, und ich mir klar werde, dass kann bei mir am Ende auch so werden. Meine Frau arbeitet ehrenamtlich in einem Hospiz. Sie kommt immer wieder mit Geschichten, wie Menschen aus dem Leben gehen - manche friedlich, andere mit allergrösster Mühe. Ich selber habe zehn Jahre in der Nähe von Zürich in einem Krankenhaus zeitweilig als philosophischer Seelsorger gearbeitet. Ich kenne die Situation, wenn Menschen am Ende ihres Lebens stehen.
Gibt es einen schönen Tod?
Immer gemessen an dem, was ein Mensch sich vorstellt, kann es selbstverständlich den schönen Tod geben. Manche Menschen möchten einsam sterben, manche umgeben von der Familie. Manche möchten mit einem Gebet auf der Lippe sterben, manche wollen von Religion gar nichts wissen. In der Regel erfahren wir aber nichts davon, wie die Menschen sterben, weil sie dann nichts mehr sagen.
Zur Person: Wilhelm Schmid
Wilhelm Schmid, 64, lebt als freier Philosoph und Autor in Berlin und lehrt Philosophie als ausserplanmässiger Professor an der Universität Erfurt. 2012 wurde ihm der deutsche Meckatzer-Philosophiepreis verliehen, 2013 der schweizerische Égner-Preis für sein bisheriges Werk zur Lebenskunst. Viele Jahre war er tätig als Gastdozent in Riga/Lettland und Tiflis/Georgien sowie als philosophischer Seelsorger am Spital Affoltern am Albis.
Wichtigste Publikationen: «Gelassenheit - Was wir gewinnen, wenn wir älter werden», «Das Leben verstehen» und «Mit sich selber befreundet sein» (alle Bücher im Insel Verlag, Berlin). Gerade erschienen: «Schenken und Beschenktwerden».
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