Sex und Liebe, Teil 2 «Ich bin eine Frau zum Üben»

Von Bruno Bötschi

31.7.2020

Frau F., Surrogat-Partnerin: «Diese Brille der Verliebten kann ich gut wieder ablegen, wenn ich aus dem Therapieraum hinaus in mein Privatleben schreite.»
Frau F., Surrogat-Partnerin: «Diese Brille der Verliebten kann ich gut wieder ablegen, wenn ich aus dem Therapieraum hinaus in mein Privatleben schreite.»

Frau F. arbeitet als Surrogat-Partnerin. Sie übt mit ihren Klientinnen und Klienten Nähe und Intimität. Ein Gespräch über das Küssen, therapeutischen Geschlechtsverkehr und die Liebe im realen Leben.

Das Interview mit Frau F. erscheint in zwei Teilen. Der erste Teil, in dem unter anderem erklärt wird, was genau eine Surrogat-Partner-Therapie ist, erschien am vergangenen Dienstag auf «Bluewin».

Frau F., wo und wie oft treffen Sie Ihre Klientinnen und Klienten während einer Surrogat-Partner-Therapie?

Wir treffen uns auf neutralem Terrain in einem behaglichen Therapieraum. Ich gehe mit einem ungefähren Ablauf in die Session, richte mich aber stark nach dem aktuellen Prozess. Ich bin eine Frau zum Üben. Die Häufigkeit der Treffen hängt ab von der Therapieform: Eine Intensivtherapie dauert rund zwei Wochen, wobei man sich täglich für drei Stunden trifft. Andere kommen wöchentlich für eine bis drei Stunden. Ich richte mich dabei nach den Wünschen und Möglichkeiten der Klientinnen und Klienten.

Wird vorher abgemacht, welche Körperteile wie und wie lange berührt werden?

Ja, das ist ein zentrales Element der Surrogat-Partner-Therapie, kurz SPT. Anfangs kann es sein, dass wir zur Schulung der Körperwahrnehmung nur Objekte, unsere Hände, Arme oder das Gesicht berühren – für eine genau vereinbarte Zeitdauer und einen genau vereinbarten Ort. Wenn zum Beispiel abgemacht ist, dass wir die Arme berühren, dann berühren sich nicht auch noch die Beine oder die Schultern. Das gibt Sicherheit, sensibilisiert, schafft Verbindlichkeit und macht Nähe auch für Menschen möglich, die Mühe haben mit Berührungen und Nähe, die sich schämen oder traumatisiert sind.

Gehört sich gegenseitig Ausziehen auch zur Therapie?

Surrogat-Partner-Therapie

Gemeinsam mit drei weiteren Frauen und vier Männern hat Frau F. kürzlich den ersten Schweizer Ausbildungsgang zur Surrogat-Partnerin bei Sexualtherapeutin LuciAnna Braendle abgeschlossen. Pionierarbeit in der Schweiz: In ganz Europa gibt es derzeit nur ganz wenige offiziell ausgebildete Surrogat-Partnerinnen. Mehr Infos zu Frau F. gibt es auf ihrer Website: surrogatpartnerin.ch

Wir leben mit unseren Klientinnen und Klienten innerhalb unserer Sitzungen eine Modellbeziehung. Dazu gehört, dass wir vieles üben, was auch ‹normale› Paare miteinander machen. Sich gegenseitig ausziehen gehört auch dazu.

Ist Küssen erlaubt?

Küssen ist grundsätzlich erlaubt. Sogenannte Babyküssli, harmlose Küsschen mit geschlossenen Lippen am ganzen Körper, sind schon in einem frühen Stadium der Therapie erlaubt.

Auch Zungenküsse?

Da Zungenküsse sehr erregend sein können, sind sie erst zu einem späteren Zeitpunkt der Therapie erlaubt. Ob geküsst wird, hängt davon ab, ob es im Interesse der Klienten ist und ob die Surrogat-Partnerin damit einverstanden ist. Die persönlichen Grenzen von beiden Seiten müssen immer gewahrt werden.

Frau F.: «Die Häufigkeit der Treffen hängt ab von der Therapieform: Eine Intensivtherapie dauert rund zwei Wochen, wobei man sich täglich für drei Stunden trifft. Andere kommen wöchentlich für eine bis drei Stunden.»
Frau F.: «Die Häufigkeit der Treffen hängt ab von der Therapieform: Eine Intensivtherapie dauert rund zwei Wochen, wobei man sich täglich für drei Stunden trifft. Andere kommen wöchentlich für eine bis drei Stunden.»

Kann es zum Geschlechtsverkehr kommen?

Kann es, muss es aber nicht. Je nachdem, aus welchen Gründen die Klientin oder der Klient eine SPT in Anspruch nehmen, ist Geschlechtsverkehr mehr oder weniger wichtig. Geschlechtsverkehr, wenn er denn stattfindet, ist aber ein sehr kleiner Teil der ganzen Therapie. Viel wichtiger sind die ‹Sensate Focus›-Übungen, bei denen es um die Wahrnehmung geht, um das Geniessen, das ganz im Moment sein. Sowie das Abbauen von Ängsten und Scham und das Sich-Einlassen auf ein Gegenüber.

Haben Sie Geschlechtsverkehr mit Ihren Klienten?

Mein erster Klient kam mit dem Wunsch, vor dem 40. Geburtstag sein erstes Mal mit einer Frau zu erleben. Diesen Wunsch haben wir gemeinsam gerade noch rechtzeitig erfüllen können. Das war aber nur möglich, weil er im therapeutischen Prozess schon so weit war. Einfach so erfülle ich solche Wünsche nicht.

Kuscheln unter Aufsicht: Wie authentisch ist das Ganze?

Während der Begegnungssessions sind wir nur zu zweit. Da schaut niemand zu oder macht gar Notizen. Es ist für mich selber wunderbar zu merken, wie viel echte Nähe und echte Sympathie innerhalb dieser Sessions wachsen kann und wie man gemeinsam die verschiedenen Stufen einer Paarbeziehung durchmacht. Vom ersten scheuen Kennenlernen mit Herzklopfen bis zum Abschied, wenn man sich wieder trennen muss.



Bekommen Ihre Klientinnen und Klienten Hausaufgaben?

Die verteile nicht ich, sondern der verbale Therapeut. Dabei handelt es sich hauptsächlich um Körperwahrnehmungsübungen, die die Klientinnen und Klienten alleine machen können. Manchmal erhalten sie auch andere Aufgaben, wie Achtsamkeitsübungen im Alltag oder sich selber bei bestimmten Situationen mit dem favorisierten Geschlecht zu beobachten.

Gibt es neben den Treffen auch noch andere Kontaktaufnahmen zwischen Ihnen und Ihren Klienten?

Nein. Unser Kontakt beschränkt sich ganz bewusst auf die vereinbarten Sitzungen. Kontakt ausserhalb der Sessions ist nicht erlaubt, auch nicht per Telefon oder SMS. Um die Klienten nach dem Ende der Therapie wirklich ziehen zu lassen, gilt ausserdem ein Kontaktverbot von sechs Monaten.

Was passiert, wenn Sie einen Klienten per Zufall im Ausgang treffen?

Das ist mir bisher noch nicht passiert. Ich würde ihn wohl freundlich und kurz begrüssen, jedoch ohne Körperkontakt – und dann weiter gehen.

Es heisst, die Klienten würden sich oft in die Ersatzpartnerin verlieben. Was passiert, wenn die Liebe ins Spiel kommt. Kommt es dann zur sofortigen ‹Trennung›?

Eine Trennung wird nur dann nötig, wenn sich die Surrogat-Partnerin dermassen in ihren Klienten verliebt, dass sie den professionellen Rahmen nicht mehr halten kann. Dass sich ein Klient in seine Surrogat-Partnerin verliebt, kann sehr wohl passieren. Das ist ein Zeichen dafür, dass sich jemand nahe fühlt und sich öffnet. In der Surrogat-Partner-Therapie ist das kein Hindernis, sondern eher förderlich.

Brachen Sie schon Behandlung ab, weil sich ein Klient in Sie verliebt hat?

Tiefe Blicke, Herzklopfen, Komplimente – das gehört in eine SPT, wie es auch in eine ‹normale› Beziehung gehört. Eine Therapie deshalb abzubrechen, ist nicht nötig. Wenn Klientinnen und Klienten das Verliebtsein ansprechen, dann wird es zum Thema – auch mit der verbalen Therapeutin.

Frau F.: «Mein erster Klient kam mit dem Wunsch, vor dem 40. Geburtstag sein erstes Mal mit einer Frau zu erleben. Diesen Wunsch haben wir gemeinsam gerade noch rechtzeitig erfüllen können.»
Frau F.: «Mein erster Klient kam mit dem Wunsch, vor dem 40. Geburtstag sein erstes Mal mit einer Frau zu erleben. Diesen Wunsch haben wir gemeinsam gerade noch rechtzeitig erfüllen können.»

Und Sie, haben Sie sich schon einmal in einen Klienten verliebt?

Wenn ich jemandem auf diese Weise nah bin, mit jemandem intim bin, bin ich automatisch etwas ‹verliebt›. Ich liebe es, in einem Menschen liebenswerte Details, Herziges und Herzerwärmendes zu entdecken. Dadurch, dass ich einem Menschen mit Liebe begegne, wird er automatisch schön und je nach Setting auch begehrenswert. Diese Brille der Verliebten kann ich aber gut wieder ablegen, wenn ich aus dem Therapieraum hinaus in mein Privatleben schreite. Darum ist es so wichtig, dass die Begegnungen nur im Therapieraum stattfinden.

Wie lange dauert im Durchschnitt eine Surrogat-Partnerschaft?

30 Stunden.

Wie hoch ist Ihre Erfolgsrate?

Meine praktische Erfahrung hält sich noch in Grenzen. Von meiner Ausbildnerin weiss ich aber, dass die Erfolgsrate grundsätzlich sehr hoch ist. Sie berichtet, dass bisher alle Klienten verändert aus den Therapien gegangen sind: Mit einem höheren Selbstwertgefühl, mehr Selbstsicherheit, einem grossen Reichtum an sinnlich-sexuellen Erfahrungen, mehr Körperbezogenheit und einer erweiterten Möglichkeit, Themen zu erkennen und zu benennen.



Mit wie vielen Menschen unterhalten Sie aktuell eine Surrogat-Partnerschaft?

Mit einem.

Leben Sie privat in einer Liebesbeziehung mit einem Mann?

Ja.

Was hält Ihr Partner von Ihrer Arbeit?

Er unterstützt meinen Weg sehr und erkennt, dass diese Arbeit mir sehr wichtig ist und mir entspricht. An meinem eigenen Prozess innerhalb der Arbeit ist er sehr interessiert. Details aus den Sessions möchte er aber nicht wissen.

Wenn Sie jemand fragt, was Sie arbeiten, was antworten Sie dann?

Ich habe unterschiedliche Standbeine und kann je nach Gegenüber und Situation vom einen oder anderen Betätigungsfeld berichten. Grundsätzlich reagieren die Menschen aber sehr interessiert, wenn ich ihnen von meiner Tätigkeit als Surrogat-Partnerin erzähle. Oft öffnen sich dadurch Türen und das Gegenüber rückt mit eigenen Geschichten rund ums Thema Sexualität und Partnerschaft heraus.

Der erste Teil des Interviews mit Frau F. erschien am vergangenen Dienstag auf «Bluewin».

Das Gespräch wurde schriftlich geführt.


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