Die KolumneProblem Cybermobbing: «Papi, 'Scheisse' seit mer nöd!»
Patrik Luther
3.6.2018
In der Schweiz soll, laut Studien, jeder 5. Jugendliche von «Cybermobbing» betroffen sein. Patrik Luther, Vater von zwei Kindern, sinniert in seiner Kolumne über den Untergang von Anstand und Sprachkultur.
Bei uns daheim wird nicht «Scheisse» gesagt. Es ist eine Grundregel. Denn «c'est le ton qui fait la musique» klingt es immer noch in meinen Ohren, wenn ich mich an meine Jugend zurückerinnere.
Es war eine von zahlreichen Regeln, die ich mir als Dreikäsehoch auf den Mars wünschte. Und heute? 25 Jahre später, mit kaum weniger Flausen im Kopf, schreiben meine Frau und ich für uns und unsere zwei Töchter die exakt gleichen «Anstandsregeln» an die Wand.
Dies mit der Idee dem rauen Umgangston, der uns im täglichen Leben auf Schritt und Tritt begleitet, wenigstens Zuhause etwas den Nährboden zu entziehen und die grundlegende Benimmkultur, die wir glücklicherweise auf unseren Lebensweg mitbekommen haben, an unsere Mädchen weiter zu geben.
Es ist dieser gehässige, anstandslose und auf persönlichen Angriff getrimmte Grundton, der Anlass zur Sorge bereitet. Dieser nimmt, gerade in der digitalen Kommunikation, teils schlimme Ausmasse an. Die Auswirkungen sind verheerend und treffen wie so oft die Schwächsten, also die Kinder.
Wirtschaftskapitän oder fluchender Seemann?
Kürzlich besuchte ich einen Businesslunch. Netzwerken, ein Glas Wein und ein Referat. Der Redner um die 60, graues, nach hinten gekämmtes Haar, schlank. Im Massanzug, jedoch krawattenlos, stand er vor uns.
Der ehemalige Wirtschaftskapitän vermittelte uns jedoch kein inspirierendes Hintergrundwissen. Er überlieferte auch keine Tipps und Tricks für den Aufstieg in den Business-Olymp. Nein, er wetterte vielmehr über «Arschlöcher» und «Vollidioten» und ärgerte sich über die «Dümmsten». Eine Stunde prall gefüllt mit unangebrachten Kraftausdrücken und allerfeinster Inhaltslosigkeit. Seine direkte, nein, bösartige Tirade sei seiner «Authentizität» geschuldet, erklärte der Ex-Wirtschaftskapitän, und bat um Verständnis oder vielmehr um Kenntnisnahme.
Hä? Ist dieser komische Vogel und seine Art der Kommunikation nun das neue «Normal», fragte ich in die Runde. Woher kommt diese «Bashing-Kultur»? Warum scheint öffentliches Beschimpfen einfacher, als aufrechtes Lob? Woher kommt diese Wut?
Warum erhalten Negativschlagzeilen so viel mehr Aufmerksamkeit? Und warum zur Hölle stiehlt ein vermeintlich intelligenter Mensch 70 Zuhörern eine wertvolle Mittagspause für eine unsinnige Schimpftirade?
Im Netz vergessen wir unsere gute Kinderstube
Ich glaube, es ist die Konfrontationslust im Internet, die vieles kaputt macht in unserer Gesellschaft. Schwierig haben es vor allem die Frischlinge in der vernetzten Welt. Jene mit dem ersten onlinetauglichen Gerät, die ohne Fahrprüfung und von 0 auf 200 die Strassen der unbegrenzten Kommunikationsmöglichkeiten befahren.
Diesen Netz-Neulingen, also den Kindern, wünscht man eine grosse Portion Resilienz. Mögen sie den Umgang mit diesen persönlichen Angriffen und ungesunden Umgangsformen lernen und unbeschadet überstehen.
Glaubt man offiziellen Studien, so ist in der Schweiz jeder fünfte Jugendliche direkt von «Cybermobbing» betroffen. Diese Attacken können bei Betroffenen traumatische Zustände auslösen. Mobbing-Attacken sind nicht neu, aber durch die neuen digitalen Kanäle erhalten sie eine zusätzliche Dimension. Sie sind zeitlich unbegrenzt und erreichen ihre Opfer im privatesten Teil ihres Lebens.
Digitale Hornhaut gebildet
Ich stelle fest, dass der negative Grundton, dem ich täglich begegne, meine Toleranzgrenze des Ertragbaren nach oben verschoben hat. Vielfach nehme ich Meldungen nur noch unbewusst war und gewichte diese auch entsprechend weniger. Als hätte sich eine digitale Hornhaut bei mir gebildet.
Was aber passiert mit den Menschen, welche keinen natürlich Schutz dagegen aufbauen können? Die beispielsweise einen wunden Punkt besitzen, der ungeschützt offen liegt und durch geübte Netzschützen punktgenau attackiert wird? Ja genau, was passiert mit unseren Kindern?
Im täglichen Umgang mit den Medien komme ich zum Schluss, dass wir Erwachsenen uns unserer Verantwortung oft nicht bewusst sind. Im Gegenteil: Wir leben eine unsägliche «Schlechtmacherkultur» öffentlich aus und auf allen Kanälen vor, und erschrecken dann, wenn sich Jugendliche mit ähnlichen Worten und gezielten Hasstiraden zuweilen bis in den Tod treiben.
Hier geht es nicht mehr um die ewige Hamster-Rede der «falschen» Mediennutzung, hier geht es um die Verschiebung einer längst überschrittenen Anstandslinie. Im Twitter-Trampolino liefern sich gestandene Präsidenten, Politiker und Journalisten verbale Schlammschlachten auf allertiefstem Niveau.
Am Facebook-Stammtisch treffen sich «Hasser» und «Versteher» aller Art und verprügeln sich gegenseitig die Reputationsvisage und auf Instagram und Snapchat tummeln sich Millionen kleiner «Anna Wintour MiniShe's» und denunzieren Personen, deren Aussehen und Kleidungsstil jenseits jeden Rechtsempfindens. Nein, dies ist einfach kein optimales Vorbild und – Gopfridstutz – auch fern ab von jedem Anstand.
Wie gehe ich als Vater damit um?
Nun bin ich nicht der grundsätzliche Pessimist und Miesmacher und lasse die Fünfe gerne auch mal gerade sein. Natürlich gibt es ein Delta zwischen gefühlter Menge und tatsächlich vorhandener Negativ-Kommunikation. Leider verhält es sich jedoch in etwa so, wie wenn man einen kleinen Tropfen «böse» Farbe in ein klares «gutes» Wasserbecken fallen lässt.
Und wie gehe ich als Vater damit um? Ich tue mein Bestes im Mikrofamilien-Umfeld. Wie gesagt: Bei uns zu Hause wird nicht «Scheisse» gesagt. Dies steht stellvertretend für weitere Regeln, die wir uns auferlegt haben. Wie oft ich trotzdem in die Fluchwortkiste greife, führt mir meine Tochter jeweils postwendend vor Augen: «Papi, 'Scheisse' seit mer nöd!»
Damit steht sie im Recht und der Regel-Boomerang funktioniert bestens. Ein kleines Beispiel und vielleicht auch Sinnbild dafür, dass die junge Generation sehr wohl zwischen Recht und Unrecht unterscheiden kann und auch lautstark dafür einsteht, sofern sie das vorgelebte auch als sinnvoll erachtet. Anstand war früher, ist heute und wird auch in Zukunft ein Grundgut bleiben, welches wir, sofern wir das Glück hatten dies vermittelt zu bekommen, auch weitergeben können und sollen.
Das Gewitter-Referat des besagten Silberrückens hat mir insofern bestätigt, dass die Umgangsformen für unser Zusammenleben entscheidend sind, unabhängig vom Kanal, und das dieser Fritz es ganz sicher als Fritzchen nie gelernt hat.
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