Braucht es ein drittes Geschlecht? «Non-binäre Menschen gab es schon immer»

Bruno Bötschi

17.5.2024

Danke, Nemo, wir sind ESC!

Danke, Nemo, wir sind ESC!

Nemo gewinnt den Eurovision Song Contest 2024 in Malmö. Damit holt das Bieler Ausnahmetalent den grössten Gesangswettbewerb der Welt in die Schweiz. Eine Video-Hommage an die erste non-binäre Person, die den ESC gewonnen hat.

11.05.2024

Nach dem ESC-Sieg von Nemo ist die Diskussion um einen dritten Geschlechtseintrag neu lanciert. Nemo ist non-binär. Was aber ist das? Der Geschäftsführer vom «Transgender Network Switzerland» gibt Auskunft.

Bruno Bötschi

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Nachdem Nemo mit dem Song «The Code» am vergangenen Wochenende den 68. Eurovision Song Contest im schwedischen Malmö gewonnen hat, ist die Diskussion um einen dritten Geschlechtseintrag in der Schweiz neu lanciert.
  • Der 24-jährige Popstar aus Biel identifiziert sich als non-binär. Nun soll der Erfolg von Nemo helfen, die Anliegen non-binärer Menschen in der Schweiz schneller voranzubringen.
  • Bereits hat der neue Justizminister Beat Jans Nemo zu einer Diskussion eingeladen: «Lass uns bald zusammenkommen und über queere Rechte sprechen», schrieb der SP-Bundesrat.
  • Was aber ist non-binär? «Non-binäre Personen fühlen sich weder als Mann noch als Frau. Wichtig, die Geschlechtsidentität sieht man einer Person nicht zwingend an, auch nicht körperlich», sagt Sandro Niederer, Geschäftsführer des «Transgender Network Switzerland» im Interview mit blue News.

Sandro Niederer, was fühlten Sie, als Nemo am vergangenen Wochenende in Malmö den Eurovision Song Contest mit dem Song «The Code» gewonnen hat?

Über den Sieg einer non-binären Person am Eurovision Song Contest habe ich mich natürlich gefreut, auch wenn der Musikwettbewerb durch die Teilnahme von Israel überschattet war. Dass non-binäre Personen in der Schweiz zunehmend sichtbar werden, zeigt eine positive Entwicklung unserer Gesellschaft.

Nemo identifiziert sich als non-binär. Für diejenigen, die es noch nicht wissen: Was bedeutet es, wenn sich ein Mensch als non-binär identifiziert?

Jeder Mensch hat eine Geschlechtsidentität, verfügt also um das innere Wissen, welches Geschlecht er hat. Manche Menschen sind Frauen, manche sind Männer.

Non-binäre Personen haben eine Geschlechtsidentität ausserhalb dieser Kategorien, fühlen sich also weder als Mann noch als Frau. Wichtig: Die Geschlechtsidentität sieht man einer Person nicht zwingend an, auch nicht körperlich.

Transgender Network Switzerland

Der Verein Transgender Network Switzerland, kurz TGNS, wurde 2010 als Selbstvertretungsorganisation von und für trans Personen gegründet. Trans steht für transgender, transident – und alle andern, die sich mit dem Geschlecht, das ihnen bei Geburt zugewiesen wurde, nicht oder nur unzureichend identifizieren können. Sandro Niederer ist seit 2023 Geschäftsleiter von TGNS.

Der Begriff «non-binär» gilt als relativ neu. Warum brauchen wir ihn?

Non-binäre Menschen gab es schon immer. Je nach Epoche gab es in der Gesellschaft andere Bezeichnungen dafür.

In Europa hat sich in den letzten Jahrhunderten sehr stark ein zweiteiliges Geschlechtersystem entwickelt mit der Unterteilung in Mann und Frau, andere Geschlechtsidentitäten fanden da wenig Platz.

Dadurch fehlten uns auch etwas die Begriffe dafür. Mit dem Begriff «non-binär» können wir andere Geschlechter beschreiben und dadurch uns besser darüber unterhalten, damit wir eine Zukunft gestalten können, die für alle stimmt.

Viele Menschen in der Schweiz, die kaum Kontakt mit der queeren Community haben, fragen sich aktuell: Wie spreche ich non-binäre Menschen wie Nemo richtig an?

Non-binäre Menschen verwenden verschiedene Pronomen. Am besten fragt man höflich nach: «Welche Pronomen verwendest du? Meine Pronomen sind er/sie.»

Die Anrede in Briefen und Mails lässt sich mit «Guten Tag Vorname Nachname» besonders einfach gestalten. Neben den gängigen deutschen Pronomen er und sie verwenden non-binäre Personen manchmal auch keine Pronomen oder sie borgen sich Begriffe aus anderen Sprachen.

Falls man sich nicht sicher ist, wie ein Pronomen am besten verwendet wird, kann auch gut nach einem kleinen Beispielsatz gefragt werden. Ein kleiner Fehler in einer Konversation macht nichts, solange man sich Mühe gibt.

Wieso bevorzugen non-binäre Menschen eine genderneutrale Anrede?

Mit der Art und Weise, wie wir über uns selbst und andere sprechen, drücken wir aus, wer wir sind und zeigen grundlegenden Respekt für unser Gegenüber. Begriffe zu haben, die einen selbst korrekt beschreiben, ist also wichtig. Genauso wie es respektlos ist, eine Frau mit «er» oder «Herr Müller» anzusprechen, ist es für non-binäre Personen unangenehm, wenn sie nicht mit ihren Pronomen angesprochen werden.

Im Englischen werden für non-binäre Menschen die Pronomen «they/them» benutzt. Gibt es im Schweizerdeutschen oder Hochdeutschen ein Äquivalent?

Die deutsche Sprache hat sich in den letzten 200 Jahren sehr binär entwickelt, weshalb uns geschlechtsneutralere Pronomen fehlen. Manche non-binären Personen borgen sich Pronomen aus dem Englischen oder aus anderen Sprachen, welche geschlechtsneutrale Pronomen haben oder sie verwenden einfach ihren Namen. Zum Beispiel würde man dann sagen: «Nemo hat den ESC gewonnen. Der Sieg von Nemo bedeutet Nemos Fans viel.»

Immer wieder müssen sich non-binäre Menschen Fragen anhören, die respektlos, grenzüberschreitend und übergriffig sind. Höchste Zeit also, einmal andersherum an die Sache heranzugehen: Welche Fragen sind nicht nur okay, sondern wünschenswert?

Die Frage nach dem richtigen Pronomen und der richtigen Anrede ist immer wünschenswert. Ansonsten ist es sehr stark situationsabhängig. Für die meisten Interaktionen ist die Geschlechtsidentität des Gegenübers nicht wichtig, da reicht es, zu wissen, wie das Gegenüber angesprochen werden soll.

Muss man es trotzdem einmal wissen, zum Beispiel auf Formularen, kann man mit Begründung höflich nach der Geschlechtsidentität der Person fragen.

Wer gern mehr zu dem Thema wissen möchte, findet bei Community-Organisationen wie Transgender Network Switzerland, kurz TGNS, oder We Exist, kostenlos eine ganze Bandbreite von Informationen aus erster Hand.

Was denken Sie, warum gibt es nach wie vor Menschen, die an den Kategorien «Mann» und «Frau» festhalten wollen?

Im Gegensatz zu anderen Persönlichkeitsmerkmalen wie zum Beispiel dem Alter sehen wir die Geschlechtsidentität als eine vorbestimmte, feste Eigenschaft. Solche festen Kategorien geben Regeln vor, an der sich die Gesellschaft orientieren kann.

Merken wir, dass unsere Kategorien nicht ausreichen, kann dies verunsichern. Wichtig: Wer Mann oder Frau ist, darf dies natürlich weiterhin bleiben. Non-binäre Menschen möchten nur dieselben Rechte wie alle anderen auch.

Eine befreundete non-binäre Person sagte kürzlich zu mir: «Ich bin alles auf einmal, und gleichzeitig nichts davon.»

Viele non-binäre Personen erleben ihre Geschlechtsidentität als sehr vielseitig. Die Tatsache, dass sie nicht in die verhärteten Kategorien von Mann oder Frau gehören, erlaubt ihnen einen sehr nuancierten Blick auf die Geschlechterthematik mit vielen Erkenntnissen zu sich selbst und unserer Gesellschaft. Das kann ein Gewinn für uns alle sein.

Wie sieht die aktuelle Lebensrealität von non-binären Menschen in der Schweiz aus?

Wir gehen davon aus, dass zurzeit in der Schweiz über 100'000 non-binäre Personen leben. Ihr Alltag sieht so verschieden aus wie der von Männern und Frauen in der Schweiz. Nicht alle non-binären Personen sind geoutet oder haben ein androgynes Aussehen. Die, die jedoch in ihrem Umfeld offen zu ihrer Nonbinarität stehen, leisten oft viel Aufklärungsarbeit in ihrem Umfeld und sind mit administrativen Hürden und gesellschaftlichen Vorurteilen konfrontiert.

Kurz nach dem ESC-Sieg sagte Nemo zum Schweizer Fernsehen SRF: «Ich setze mich ganz klar für einen dritten Geschlechtseintrag ein.» Was denken Sie, bringt Nemo damit neuen Schwung in die Debatte, nachdem der Bundesrat Ende 2022 entschieden hatte, weiterhin alle Menschen dazu zu verpflichten, offiziell als «weiblich» oder «männlich» registriert zu sein?

Seit der Ablehnung durch den Bundesrat 2022 hat sich bereits wieder vieles getan. Unter anderem hat sich die Nationale Ethikkommission mit der Thematik befasst und der Nationalrat verlangt mit einem deutlichen Mehr einen Bericht vom Bundesrat, wie die Situation von non-binären Menschen in der Schweiz verbessert werden könnte. Nemo generiert mit dem Sieg für die Schweiz sicherlich viel Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit für die Thematik. Dies kann durchaus als Katalysator genutzt werden.

Es scheint, dass der neue Justizminister Beat Jans offen für eine Diskussion ist. «Lass uns bald zusammenkommen und über queere Rechte sprechen», schrieb der SP-Bundesrat an Nemo. Freut Sie das?

Natürlich freuen wir uns sehr über die Offenheit von Bundesrat Beat Jans für die Thematik. Es zeigt uns, dass unsere Probleme und die Diskriminierung, die wir erleben, erkannt werden.

Was wünschen Sie sich sonst noch von den Menschen in der Schweiz in Bezug auf die Akzeptanz von non-binären Personen?

Wir freuen uns über die Offenheit und Fragen vieler Menschen in der Schweiz und wünschen uns, dass sie sich mit der Thematik auseinandersetzten, wenn möglich bei uns informieren und den non-binären Personen in ihren Leben mit Wohlwollen und Interesse begegnen.


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