Nachbar*innen können manchmal nerven. Aber auch ein Stück Heimat bedeuten, findet die Kolumnistin. Und freut sich über die neu gewonnene Nähe zu ihrer Nachbarschaft.
Von Michelle de Oliveira
08.10.2022, 10:29
Michelle de Oliveira
Wer nicht gerade im eigenen Haus in relativer Abgeschiedenheit lebt, kommt um sie nicht herum: Nachbar*innen. Und teilt mit ihnen – ob gewollt oder nicht – ein Stück Leben.
Manchmal kommt mir das nachbarschaftliche Leben vor wie eine Wohngemeinschaft: Weil es bei uns relativ ringhörig ist, weiss ich, wie lange die Nachbarin links mit ihrer Mutter telefoniert, um welche Zeit das Kind vis-à-vis ins Bett geht und welche Familie jeden Sonntag um die exakt gleiche Zeit den Grill anfeuert.
Und ich glaube zu wissen, dass der Nachbar rechts eine chronische Nasennebenhöhlen-Entzündung hat. Jeden Morgen um acht schnäuzt er sich minutenlang geräuschvoll die Nase, am Wochenende um neun Uhr.
Zur Autorin: Michelle de Oliveira
Bild: zVg
Michelle de Oliveira ist Journalistin, Yogalehrerin, Mutter und immer auf der Suche nach Balance – nicht nur auf der Yogamatte. Ausserdem hat sie ein Faible für alles Spirituelle und Esoterische. In ihrer Kolumne berichtet sie über ihre Erfahrungen mit dem Unfassbaren. Seit Kurzem lebt sie mit ihrer Familie in Portugal.
Eine WG in mehreren Wohnungen sozusagen, man teilt sich zwar nicht Wohnzimmer, Küche und Toilette, aber deren Geräuschkulisse.
Nur gibt es für Nachbarn kein Casting, kein vorheriges Kennenlernen wie in einer Wohngemeinschaft.
Und man verbringt auch nicht erst viel Zeit in der Wohnung der oder des anderen, wie in einer Partnerschaft, bevor man zusammenzieht. Von jetzt auf sofort wohnt man zusammen, oder eben Tür an Tür.
Ein Paradies aus knackigen Rüebli und frischem Salat
In meiner Kindheit bedeutete die unmittelbare Nachbarschaft ein kleines Universum für mich.
Ich wuchs in einem Hochhaus auf, im sechsten Stock, auf jeder Etage vier Wohnungen. Die Nachbarin direkt unter uns war unsere Ansprechperson, wenn meine Eltern abends einmal weg und meine Schwester und ich alleine zu Hause waren. Ich glaube, wir mussten kein einziges Mal bei ihr klingeln. Schon nur zu wissen, dass sie da war, gab uns Sicherheit.
Ich erinnere mich an die ältere Dame vom dritten Stock, die mir immer wie ein Märchen-Wesen vorgekommen ist. Sie trug stets lange Kleider mit Spitzen verziert, hatte ihr Haar aufgetürmt, trug sehr viel Schmuck und roch süss und pudrig. Den Armreif, den sie mir eines Tages im Lift geschenkt hatte, hütete ich wie einen Schatz, zum Tragen war er mir viel zu gross.
Und da war Dave, der erwachsene Sohn anderer Nachbarn, bei denen ich eines Tages aus tiefster Verzweiflung klingelte. Mein Meerschweinchen lag offensichtlich im Sterben, ich war alleine und hoffnungslos überfordert.
Da ich wusste, dass Dave auch Meerschweinchen hatte, stand ich also heulend vor seiner Tür. Sofort kam er mit mir zu meinem Tierchen und streichelte es liebevoll, bis es für immer eingeschlafen war.
Dann erzählte er mir, es sei jetzt im Meersäuli-Himmel, einem Paradies aus knackigen Rüebli, frischem Salat und wohlriechendem Heu. Bis heute stelle ich mir den Ort, wo Meerschweinchen nach ihrem Ableben hinkommen, exakt so vor.
Ein gefürchiges Krokodil
Sehr viel später waren meine Nachbarschaftserfahrungen weniger idyllisch und weniger nah. Ich zog mich aus dem Universum zurück und verblieb auf meinem eigenen, kleinen Planeten. Die Nachbarn traf ich nur, wenn ich nicht rechtzeitig in der Wohnung verschwinden konnte.
Meine Nachbarin im Zürcher Langstrassen-Quartier etwa versicherte mir mehrmals, mein damaliger Freund sei nicht gut für mich.
Jedes Mal, wenn er bei mir sei, erscheine ihr ein gefürchiges Krokodil und sie würde fortan noch mehr beten für mich. Ob es daran gelegen hatte oder einfach am Lauf des Lebens, der Krokodil-Freund verabschiedete sich jedenfalls kurz darauf aus meinem Leben.
Dann wohnte ich in einer stilvollen Altbauwohnung, deren Böden zwar sehr schön aussahen, aber jeder Schritt knarzte, als würde das ganze Haus gleich einstürzen. Mit einer Nachbarin, die spätabends Aerobic im Wohnzimmer machte und beim Lachen wieherte wie ein Pferd, nicht ganz optimal.
Plötzlich wurden aus Nachbarn wieder Vertraute
Die Nachbarschaft war für mich irrelevant, im schlimmsten Fall etwas nervig. Aber ich war ohnehin wenig in meiner Wohnung, begegnete oft wochenlang niemandem.
Bis ich Mutter wurde und viel mehr Zeit zu Hause verbrachte. Und schliesslich die Pandemie dafür sorgte, dass dies alle tun.
Plötzlich wurden aus Nachbarn wieder Vertraute. Heute bringen wir einander frisch gebackenen Kuchen vorbei, teilen die Trauben, von denen wir aus familiären Gründen immer viel zu viele haben, helfen mit Kaffee aus und treffen uns auf der Wiese zum Feierabendbier.
Mir gefällt das.
Es tut gut, zu wissen, dass nebenan Menschen leben, die nicht Fremde sind. Dass meine Kinder später auch bei den Nachbarn klingeln können, sollten sie einmal Hilfe brauchen. Es gefällt mir, dass sich meiner kleiner Planet wieder auf der nachbarschaftlichen Umlaufbahn bewegt.
Tamara Krapf, Lebenshof-Betreiberin: «Ich will nicht meine Freunde essen»
Tamara und Stefan Krapf leben auf dem Känguruhof in Bernhardzell SG. Das Paar lässt seine Tiere nicht mehr schlachten. Vom Bauernhof zum Lebenshof – begonnen hat alles mit der Liebe zu einem Ochsen.