KolumneIch will sagen dürfen, dass mich die Mutter-Rolle stresst
Von Michelle de Oliveira
3.9.2022
Die Kolumnistin ist Mutter zweier kleiner Kinder und sehr glücklich darüber. Und doch will sie sich manchmal über das Leben mit ihnen beschweren dürfen, ohne dafür zurechtgewiesen zu werden.
Von Michelle de Oliveira
03.09.2022, 16:20
Michelle de Oliveira
Vor einer Weile war ich auf einem Geburtstagsfest und unterhielt mich mit einem Bekannten einer Freundin. Er, Vater von drei Kindern und Arzt, fragte irgendwann, wie es mit meinen Kindern so gehe.
Ich antwortete: «Gut, sind herzig die zwei, und wachsen schnell. Aber die kleinere schläft noch immer sehr schlecht, das macht mich fertig.»
Er antwortete: «Ja, schon, aber stell dir vor, sie hätte Leukämie. Dagegen sind ein paar schlaflose Nächte nichts.»
Ich fühlte mich wie geohrfeigt. Lächerlich, dumm und undankbar.
Es könnte alles viel schlimmer sein
In den darauffolgenden Tagen dachte ich immer wieder daran. Als ich beim Anstehen im Supermarkt vor lauter Müdigkeit beinahe eingeschlafen bin, als das Kind den Porzellanteller (auf den es bestanden hatte) samt Tomatenspaghetti in eine Ecke gepfeffert hat, als ich zum siebten Mal meine Yogastunde absagen musste, weil schlicht keine Zeit blieb.
Alles halb so wild, sagte ich mir. Die Kinder sind gesund, es geht uns gut. Es könnte alles viel schlimmer sein.
Zur Autorin: Michelle de Oliveira
Bild: zVg
Michelle de Oliveira ist Journalistin, Yogalehrerin, Mutter und immer auf der Suche nach Balance – nicht nur auf der Yogamatte. Ausserdem hat sie ein Faible für alles Spirituelle und Esoterische. In ihrer Kolumne berichtet sie über ihre Erfahrungen mit dem Unfassbaren. Seit Kurzem lebt sie mit ihrer Familie in Portugal.
Das stimmt natürlich. Der Mann hatte recht. Ein schwer krankes Kind ist eine der beängstigendsten Vorstellungen und ich kann nur erahnen, wie schlimm das für betroffene Familien sein muss.
Dagegen sind meine Problemchen lächerlich. Und es tut gut, die eigenen Sorgen hin und wieder mit dem grossen Ganzen abzugleichen, in Relation zu bringen, Dankbarkeit zu üben. Keine Frage.
«Andere wünschten sich, sie hätten Kinder»
Und dennoch: Es dürfen doch zwei Herzen in meiner Brust schlagen. Eines, das unbedingt Kinder wollte, diese über alles liebt und sich kein anderes Leben wünscht.
Und zwischendurch schlägt eben ein anderes Herz. Oder vielmehr ist es dasselbe Herz, aber es schlägt in einem anderen Takt: Im «Vor-Kinder-Leben-Takt», im «Party-Takt», im «Jede-Menge-Zeit-für-mich-Takt», im «Mit-Handgepäck-verreisen-Takt», im «Den-Sonntag-verschlafen-Takt».
Ich will teilen dürfen, wenn ich es gerade unfassbar anstrengend finde, Mutter zu sein. Und dann will ich nicht hören: «Du wolltest doch Kinder, war ja deine Entscheidung.» Oder: «Andere wünschten sich, sie hätten Kinder.»
Das weiss ich. Es war glücklicherweise meine Entscheidung und dafür bin ich unendlich dankbar. Ich bereue sie nicht. Aber auch eine richtig getroffene Entscheidung hat doch das Potenzial, hin und wieder zu nerven?
So wie der Traumjob Journalistin mich manchmal total stresst. Wie manche portugiesische Gepflogenheiten mich wahnsinnig machen und mich das launige Küstenwetter nervt. Wie mein Partner mich wütend machen kann.
«Haben wir etwa nicht grössere Probleme?»
Es gibt immer etwas Schlimmeres. Es gibt Krankheit, es gibt Armut, es gibt Krieg. Das ist alles viel gravierender als nervende Kinder. Aber es gibt eben immer etwas Schlimmeres, und dafür gibt es einen Begriff aus der Politik: «Whataboutism».
Eine Technik, die aber auch in Online-Diskussionen oft verwendet wird. Was so viel bedeutet wie «Und was ist mit ...?» Mit «Whataboutism» lässt sich jede Kritik zurückweisen, jeder Blick auf etwas anderes lenken, jedes Problem, jede Sorge kleinreden und zunichtemachen.
Wenn ich etwa über gendergerechte Sprache schreibe, bekomme ich Post von Lesenden, die sagen: «Haben wir etwa nicht grössere Probleme?» Doch, die haben wir leider.
Aber einerseits gilt es, auch kleinere Herausforderungen anzunehmen, um so möglicherweise im Grösseren etwas zu bewegen (wie etwa das Gendern einen Beitrag zur Wendung in der Gleichstellungsproblematik leisten kann). Und anderseits sind die für jemand lächerlich erscheinenden Herausforderungen eben gerade die fordernde Realität einer anderen Person.
Uns über das unfassbare Glück freuen
Ich will meinem Umfeld nicht über mein Leben klönend in den Ohren liegen. Aber hin und wieder will ich meinem Ärger, meinen Emotionen Luft machen, ihnen Raum geben, sodass sie verpuffen können und dann die Freude über die Kinder / die Schreiberei / das Leben in Portugal / meine Beziehung sich wieder richtig entfalten kann.
Wenn ich von mir erwarte, mich pausenlos ob meiner Kinder und meines gesamten Lebens zu freuen, setzt das nicht nur mich wahnsinnig unter Druck.
Es schafft auch für meine Kinder eine Atmosphäre, in der sie ganz bestimmt nicht aufwachsen wollen. Wir sollen schlecht gelaunt sein dürfen, uns gelegentlich im Ton vergreifen, unausgeschlafen und darum unausstehlich sein, alles doof finden.
Und uns dann wieder über das unfassbare Glück, das wir haben, freuen.
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