Kein Alkohol, kein Sex und keine Drogen – was nach Aufnahmebedingungen für einen Klosterbeitritt klingt, ist das Motto der sogenannten Straight-Edge-Bewegung.
Es ist ein Leben voller Verzicht und Entbehrung, das die sogenannten «Straight Edger» führen. Und sie tun es freiwillig, also weder aus gesundheitlichen noch religiösen Gründen.
Alkohol, Tabak, Drogen und Sex sind tabu. Und viele der Anhängerinnen und Anhänger dieser Szene geben noch eins drauf: keinen Kaffee, keinen Zucker, nichts Tierisches auf dem Teller.
Nichts Neues
Neu ist diese Subkultur nicht. Bereits Anfang der 1980er-Jahre schrie die amerikanische Hardcore-Punkband Minor Threat ins Mikrofon: «I don’t smoke, I don’t drink, I don’t fuck. At least I can fucking think.» Das kam bei manchen jungen Menschen gut an. Die damals herrschende No-future-Mentalität lehnten sie ebenso ab wie exzessiven Drogenkonsum, der unter manchen Punks zum guten Ton gehörte.
Sie wurden zu einer Bewegung und benannten sich nach einem Song von Minor Threat «Straight Edge», was je nach Quelle «gerade Kante», «unbedröhnter Weg» oder «gradlinig im Vorteil» bedeutet. Und auch ein Erkennungszeichen ihrer Zusammengehörigkeit gibt es: Ein schwarzes X, das damals minderjährigen Besuchern von Klubs auf den Handrücken gemalt wurde, damit ihnen der Barkeeper das Bier verweigern konnte.
Seit einiger Zeit hat diese Bewegung der Nüchternheit wieder regen Zulauf. Aber warum tut man sich das an? Es ist ja nicht so, dass alle Menschen ständig kettenrauchend an der Flasche hängen und Nacht für Nacht mit einer anderen Person Sex haben. Aber ab und zu ein Bier oder ein Flirt, der im Bett endet, das macht Spass und hat doch hauptsächlich mit Genuss und Lebenslust zu tun.
Mir jedenfalls ist dieses knallharte Abstinenzlertum ein Rätsel. Also habe ich mich auf die Suche nach einem Straight Edger gemacht. Keine einfache Sache, aber schliesslich werde ich über unzählige Bekannte fündig. Remo ist 29 Jahre alt, arbeitet in der IT-Branche und gehört seit rund fünf Jahren der Bewegung an.
Ein X trägt er natürlich auch, allerdings als Tattoo auf dem Oberarm. Und er erklärt ganz klar, was ihn zu diesem Lebensstil motiviert: «Ich will mich von nichts abhängig machen und auch meine Triebe im Griff haben.» Und er möchte das reale Leben leben, keinen Rausch, keine Ablenkung, keine Sünde, gar nichts. «Alles, was das Denken und Handeln und damit meine Persönlichkeit beeinflusst, lehne ich ab.»
Auf Sex verzichten
Damit kann sich Remo zu den Anhängern von «Clean Living» zählen. Sie setzen auf gesunde Nahrungsmittel, einen natürlichen Lebensstil, Naturbaustoffe, nachhaltige Energieversorgung, Naturkosmetik und so weiter – je nach Gruppe mit anderen Prioritäten. Kurz: Eine gesundheitsbewusste und nachhaltige Lebensweise mit dem Schwerpunkt auf Selbstoptimierung – das gilt heutzutage als cool.
Und um seine Persönlichkeit zu verbessern, ist schliesslich jedes Mittel recht. Selbst der Verzicht auf Sex. «Das ist für viele unverständlich», sagt Remo. «Dass man nicht raucht oder trinkt, ist nachvollziehbar, aber keinen Sex?» Doch Remo bleibt knallhart, selbst wenn das bedeutet, dass seine wenigen Liebesbeziehungen immer schnell wieder scheitern. «Sex vor der Ehe ist für mich kein Thema.»
Die Regeln, die sich die Straight Edger notabene selber setzen, sind streng und nehmen teil sektiererische Züge an. «Manche aus der Bewegung sind tatsächlich davon überzeugt, dass sie bessere Menschen sind», ärgert sich Remo. Denn Verlockungen lauern überall.
Diesen Versuchungen nicht zu erliegen, braucht schon einiges. «Aber die Selbstbeherrschung macht uns ja noch lange nicht zu Helden.» Und für manche ist es nicht einfach ein frei gewählter Lebensstil, sie sehen sich als Rebellen gegen die Gesellschaft mit ihrem zerstörerischen Gewohnheiten und Ritualen.
Nicht so Remo: «Das finde ich komplett übertrieben, damit kann ich mich nicht identifizieren.» Am Ende geht es einfach darum, ein zufriedenes Leben nach selbst gewählten Grundsätzen zu führen. «Ob man dafür auf Bier, Zigis und Sex verzichten will, ist doch jedem selber überlassen.»
Zur Autorin: Marianne Siegenthaler ist freie Journalistin und Buchautorin. Wenn sie grad mal nicht am Schreiben ist, verbringt sie ihre Zeit am liebsten im, am und auf dem Zürichsee.
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