Kolumne am MittagSie haben alles für euch getan, liebe Frauen
Von Sibylle Aeberli
15.4.2021
Heute sind es genau 25 Jahre, seit das erste Album der deutschen Frauenband Tic Tac Toe erschien. Es wird Zeit, dass sie in der Popgeschichte endlich den Platz bekommen, der ihnen zusteht – dem der Pionierinnen, ja, Revoluzzerinnen.
Von Sibylle Aeberli
15.04.2021, 11:30
15.04.2021, 13:10
Sibylle Aeberli
Ich erinnere mich noch genau, wann ich sie zum ersten Mal sah: Es war 1996, ich war 34 Jahre alt und gerade dabei, sämtliche meiner Nebenjobs zu schmeissen, um endlich freischaffende Musikerin zu werden.
Ich war mit Michael von der Heide auf Tournee, Schtärneföifi wurden geboren, ich spielte noch in diversen anderen Bands und fühlte mich klasse. Ich warf mich mit einem Bier auf die Couch. Auf MTV lief ein locker-flockiger deutscher Hip-Hop-Popsong mit eingängigem Riff, gerappt und gesungen im Stil der englischsprachigen Girlgroups wie TLC oder Destiny’s Child.
Aber was sangen die Frauen da? «Ich find dich scheisse?» Unerhört! Ich war begeistert und begann richtig hinzuhören. Und hinzusehen, auch das Video war sehr aussergewöhnlich.
Drei junge, wunderschöne, rotzfreche deutsche women of color setzten sich hier über sämtliche Regeln hinweg, wie sich denn eine junge Frau zu benehmen habe. Ganz unweiblich im Automechaniker-Blaumann, vorlaut, selbstbewusst, erfrischend destruktiv – grossartig.
Das waren Tic Tac Toe, Ricky, Lee und Jazzy, damals alle um die 20 Jahre alt und dabei, die Welt zu erobern.
Um ihre Entstehung ranken sich einige Legenden. Die drei seien bei einem Battle (Rapper Contest) im Ruhrpott entdeckt worden, Lee habe da als einzige Frau gerappt und Ricky sei dann spontan zu ihr auf die Bühne gekommen, um zu jammen.
Nein, sie seien eine klassische Casting-Band, professionell zusammengestellt, ihre Biografie ein fake. Keine Realness, die im Hip-Hop so wichtig ist.
Wahr ist, dass die Musikerin und Produzentin Claudia Wohlfromm eine Vision hatte. Sie hatte genug davon, dass ihr Männer erklärten, was gute Musik sei. Das ganze Musikbusiness, das Genre des Hip-Hops im Besonderen, war auch auf der künstlerischen Seite total von Männern besetzt. Wohlfromm wollte eine Band erschaffen, die das Gegenteil sein sollte, was ihr eigener Name versprach.
Sie kannte Lee bereits, die dann Ricky ansprach, Jazzy wurde auf der Tanzfläche entdeckt. Gemeinsam erschufen sie Tic Tac Toe, besprachen, worüber sie singen wollten, ihren Stil, und vor allem, dass sie bleiben wollten, wie sie waren: laut, unangepasst, ungehorsam, autonom, authentisch.
Auch in der Schweiz einen Riesenerfolg
Torsten Börger, damaliger Lebenspartner von Wohlfromm, Komponist und Produzent, schrieb ihnen die Songs nach ihren Ideen auf den Leib. Das Ergebnis: eine Sensation.
So kannte die deutschsprachige Welt junge Frauen nicht, ausser vielleicht von Nina Hagen, meinem grossen Idol, aber ihr Publikum war nicht zwischen 12 und 16 Jahre alt. Wir Fans von Nina waren älter, also schon «verdorben».
Auch in der Schweiz hatten Tic Tac Toe einen Riesenerfolg, ihre beiden Alben waren wochenlang unter den Top Ten der Hitparade, «Klappe die 2te» schaffte es sogar bis an die Spitze der Charts.
In 18 Monaten verkauften Tic Tac Toe drei Millionen Alben, obwohl ihre Songs von vielen Radiostationen nicht gespielt wurden. Sie wurden plötzlich zur Gefahr für allerlei Konservative und Puristen, die Band wurde von den Musikkritikern verrissen, sie wurden reduziert auf schlechtes Benehmen und Schimpfwörter, sie seien obszön, etwas, was bei den männlichen Kollegen noch nie ein Problem war.
Ihre Melodien waren vielleicht tatsächlich nicht sehr anspruchsvoll, manchmal sogar trivial, ihre Texte waren es nicht. Trotzdem nahmen viele die Band wegen ihrer jungen Fans einfach nicht ernst. Aber Ricky, Jazzy und Lee beeinflussten die Mädchen zu Hunderttausenden.
Sie drückten sich in ihrer Sprache aus, waren Role models und Identifikationsfiguren, vor allem auch für die Teens of color.
Tic Tac Toe sangen über Jungs, die keine Kondome benutzen wollen («Leck mich am ABC»), vom Selbstmord einer Freundin («Warum?»), über Kindesmissbrauch («Bitte küss mich nicht») und, was vermutlich der grösste Skandal war, von ihrer eigenen Lust am Sex («Funky»)!
Gegen rassistische Stereotype und sexistische Klischees
Tic Tac Toe sangen, um es in der heutigen Sprache auszudrücken, «gegen rassistische Stereotype und sexistische Klischees» an («Die Zeit»). Sie waren der Zeit weit voraus im Bezug auf kritische Debatten um Männlichkeit.
Tic Tac Toe füllten die grössten Hallen, spielten im Vorprogramm von Michael Jackson, erhielten alle namhaften Musikpreise, dann kam der Absturz. Die Boulevardpresse hatte es sich zur Aufgabe gemacht, es diesen ungezogenen Gören zu zeigen.
Bei Lee wurden sie dann fündig: Sie habe als Prostituierte gearbeitet und ihren Ehemann in den Tod getrieben. Ersteres masslos übertrieben (und ein Witz angesichts dessen, dass das Pimpsein bei männlichen Hip-Hoppern als Leistungsausweis in der Branche gilt), Letzteres schlicht gelogen.
Es hagelte Bomben- und Morddrohungen und rief Hunderte von «Ich hab's ja immer gewusst»-Typen auf den Plan. Lee wandte sich mit folgenden Worten an die Presse: «Ist doch scheissegal, was ich bisher in meinem Leben gemacht habe, Hauptsache, ich schaffe jetzt etwas.»
Aber der Schaden war irreparabel, hatte auch Auswirkungen auf das Bandgefüge. In der legendären Pressekonferenz vom November 1997 gingen sich die drei Frauen gegenseitig an die Gurgel – ach wie schön, ein Zickenkrieg! – es kam das viel zu frühe Ende der Band.
Immerhin, Tic Tac Toe haben sich später versöhnt. Es gab sogar Wiedervereinigungen, alle nicht sehr erfolgreich. Aber heute wissen wir, wie wichtig diese Band tatsächlich war. Ricarda Wältken, Liane Sprenger-Wiegelmann und Marlene Tackelberg waren Feministinnen, ohne es zu wissen, unabsichtlich, sie waren einfach sie selbst.
Viele Musikerinnen beziehen sich auf sie, eine möchte ich zitieren, Rapperin Antifuchs: «Das waren starke Frauen, die sich mit harten Texten positioniert haben. (…) die haben auf jeden Fall etwas für Frauen im Rap bewirkt. Ohne die gäbe es uns vielleicht gar nicht.»
Bauchfrei und den Po schwingend
Zum Schluss noch meine Lieblingserinnerung an Tic Tac Toe: Am notorischen Hellmutstrassenfest in Zürich, es muss 1996 oder 1997 gewesen sein, gab es immer Platz für Beiträge aus der Nachbar*innenschaft. Besonders beliebt waren die Playbacknummern mit Tanz der Kinder. Eine Mädchengruppe, alle zwischen sechs und sieben Jahre alt, performte eine Nummer von Tic Tac Toe, bauchfrei und den Po schwingend:
«Hey Baby-Boy, zeigs mir
Zeig mir deinen geilen, ahhhhhh, yes!
Hey! Watch me!
Ich liege am Strand und die Sonne scheint mir auf den Popo
Ich bin total relaxed und geniesse ihre Show-ho
Ich lutsch an meinem Eis und fange an zu träumen
Seh dabei zu wie ihre geilen Bodies bräunen“
Wir feministischen Organisator*innen, die den Song natürlich nicht kannten, standen Haare raufend neben der Bühne und beobachteten die Szene und vor allem das Publikum.
Wir wollten die Kreativität der jungen Damen natürlich nicht unterbinden, die da herzlich frisch und naiv eine grossartige Vorstellung boten, aber dieser, äh, Text! Dann kam zum Glück der Refrain: «Hey, Mr. Wichtig, du machst da was nicht richtig».
Wir beschlossen trotzdem, uns die eingereichten Beiträge in Zukunft etwas genauer anzusehen.
Zur Autorin:Sibylle Aeberli ist seit über 30 Jahren freischaffende Musikerin, Komponistin, Schauspielerin und Texterin. Sie leitet den Chor des Sogar Theaters, spielt in diversen Bands und ist aktuell am Theater Basel zu sehen in «Alte Tiere hochgestapelt» mit «Les Reines Prochaines & Friends».
Regelmässig gibt es werktags um 11:30 Uhr und manchmal auch erst um 12 Uhr bei «blue News» die Kolumne am Mittag – sie dreht sich um bekannte Persönlichkeiten, mitunter auch um unbekannte – und manchmal wird sich auch ein Sternchen finden.