Bevor Mikaela Shiffrin in den kommenden Tagen auf Rekordjagd geht, gibt sie der «Sport Bild» ein Interview, in dem sie über ihre dunkelsten Stunden spricht und was ihr auf dem Weg zurück an die Spitze geholfen hat.
Zwischen 2019 und 2020 verstarben innerhalb von fünf Monaten Shiffrins Oma Pauline und ihr Vater Jeff. «Da gab es eine Zeit, in der ich nie mehr Ski fahren wollte», blickt die US-Amerikanerin zurück. Zurückgekehrt ist sie dennoch, doch ihr Kopf spielte ihr oft einen Streich: «Ich konnte mir die Läufe einfach nicht mehr einprägen.»
Wer sieht, wie die Athletinnen vor dem Start jeweils geistig die Strecke durchgehen, der kann sich vorstellen, dass dies ein Problem darstellt. Shiffrin, die nur noch «Teile der Strecke im Kopf» hatte, sagt: «Dadurch war es schwer, so Ski zu fahren, wie ich es wollte. Ich konnte meinem Kopf nicht mehr trauen.»
Zwar hat Shiffrin im letzten Winter zum vierten Mal den Gesamtweltcup gewonnen, dennoch sagt sie: «Erst diese Saison wurde mir nach dem ersten Slalomlauf in Levi bewusst, dass ich mir wieder den Kurs merken konnte. Das Gefühl hatte ich zuletzt, bevor mein Vater starb.»
Shiffrin hat sich professionelle Hilfe geholt
Dass sie inzwischen bei 85 Weltcupsiegen steht und mit einem weiteren Triumph mit Rekordsieger Ingemar Stenmark gleichziehen würde, wäre ohne professionelle Hilfe kaum möglich gewesen. «Ich habe angefangen, mit einer Psychologin zusammenzuarbeiten. Erst war es ein Sportpsychologe, doch das reichte nicht aus, um meine Trauer aufzuarbeiten. Bei so einem plötzlichen, unerwarteten Unglück passiert eine chemische Reaktion in einem Gehirn.» Der Tod ihres Vaters und ihrer Grossmutter sei «extrem traumatisierend» gewesen.
Shiffrin führt bei «Sport Bild» weiter aus: «Es ist eine Form der posttraumatischen Belastungsstörung, wie man sie von Kriegsveteranen kennt. Diese Analyse half mir, alles zu verstehen.» Diese Erkenntnis habe ihr geholfen, wieder Top-Leistungen abzurufen.
Eine grosse Stütze ist ihr auch Freund Aleksander Aamodt Kilde. «Wenn wir uns gesehen haben, haben wir danach ein Lächeln. Er macht mich so viel glücklicher», so die 27-jährige Ausnahmekönnerin.
Glücklich wäre sie bestimmt auch, wenn sie am Wochenende den Rekord von Stenmark knacken würde. In Kvitfjell stehen am Freitag und Sonntag zwei Super-Gs auf dem Programm, am Samstag eine Abfahrt. Davon, die grösste Skifahrerin aller Zeiten zu sein, will sie aber nichts wissen: «Jeder kann selbst entscheiden, wer die Grösste ist.»