Bei den beiden letzten Spielen der Nations League wird Reto Gertschen an der Seitenlinie stehen. Viel zu verlieren hat er nicht, denn aktuell ist die Erwartungshaltung rund ums Nationalteam der Frauen eher bescheiden.
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
- Reto Gertschen startet am Montag in seinen ersten Zusammenzug als interimistischer Nationaltrainer der Schweizer Frauen.
- Mehrere Spielerinnen aus dem aktuellen Kader kennt Gertschen aus Trainerkursen bereits persönlich.
- Da nur wenig Zeit bleibt, wird der Fokus nicht im taktischen Bereich liegen, viel mehr soll Vertrauen aufgebaut und Freude vermittelt werden.
- «Das Ziel wird sein, einen stabilen, souveränen und freudigen Auftritt hinzkukriegen, damit wir das Jahr mit einem guten Gefühl abschliessen können», sagt Gertschen. Den Abstieg aus der Liga A noch abzuwenden, hat aber nicht oberste Priorität.
Als Reto Gertschen, seit 2017 Leiter des Ressorts Trainerausbildung im Verband, letzte Woche in den Ferien ist, da klingelt am Freitagabend sein Telefon. Die Frauen-Nati sucht nach der «einvernehmlichen Trennung» von Inka Grings einen Cheftrainer für die beiden abschliessenden Nations-League-Spiele gegen Schweden und Italien.
«Ich habe mich sehr über die Anfrage gefreut», sagt Gertschen eine Woche später bei seinem ersten öffentlichen Auftritt im Haus des Fussballs in Muri bei Bern in der Rolle als Interims-Coach der Frauen-Nati. Dennoch habe er das Ganze zuerst für sich einordnen müssen. «Am nächsten Morgen war klar, ich werde das machen. Wenn ihr wollt, dann bin ich bereit.»
Und der Verband wollte. Und so sitzt der frühere Mittelfeldspieler, der mit den Young Boys und Sion je einen Meistertitel und einen Cupsieg feiern konnte, nun da und sagt: «Ich bin stolz darauf, diese Nationalmannschaft zu trainieren.» Gertschen war nach seiner Profi-Karriere Spielertrainer in Bümpliz, coachte für ein paar Monate in Grenchen, und er war bei diversen Juniorenauswahlen der Schweiz entweder als Trainer oder Assistent tätig.
Gertschen hat noch nie ein Frauenteam trainiert, aber …
Viel Zeit, sich auf das Abenteuer vorzubereiten, bleibt nicht. Aber Gertschen möchte ohnehin unvoreingenommen an die Sache rangehen. «Ich möchte mir wirklich zuerst einmal ein Bild machen vor Ort.» Am Montag und Dienstag werde er mit allen Spielerinnen Vieraugengespräche führen. Er wolle die Menschen kennenlernen und ihre Bedürfnisse abholen. Möglichst rasch wolle er dann aber den Blick nach vorne richten.
Die Gespräche und die ersten Trainingseindrücke sollen Aufschluss darüber geben, wo es den Hebel anzusetzen gilt. Dabei wird die Technik und Taktik kaum im Vordergrund stehen, auch wenn das natürlich wichtig sei. Aktuell sei aber viel mehr «Leadership, Management und Kommunikation» gefragt.
Ein Frauenteam hat der 58-Jährige zuvor noch nie betreut. Komplettes Neuland betritt Gertschen trotzdem nicht. «In meiner Rolle als Trainerausbildner habe ich mich natürlich immer wieder mit Frauenfussball beschäftigt.» Auch kennt er mit Livia Peng, Noelle Maritz, Luana Bühler, Viola Calligaris, Riola Xhemaili, Coumba Sow und Ana-Maria Crnogorcevic bereits sieben Spielerinnen aus dem aktuellen Kader persönlich, da diese gerade dabei sind, das C-Diplom als Trainerin zu absolvieren. Meriame Terchoun, die bereits einen Schritt weiter ist in Sachen Trainerinnen-Ausbildung, kennt er ebenfalls aus einem früheren Kurs.
Die Geschlechterfrage ist für Gertschen, der nach der Jahrtausendwende bei YB und Thun auch einige Saisons als Sportchef amtete, aber ohnehin sekundär. Ob Frauen oder Männer, es gehe darum, Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen und Kulturen zu einer Gemeinschaft zu formen. Und: «Wir lieben den Fussball. Also. Darum soll es gehen. Wir wollen auf den Platz gehen und Freude am Fussball haben. Das ist alles. Das ist das Schöne.»
Wie hat Gertschen das Kader zusammengestellt?
Bei der Kaderzusammenstellung habe er sich am letzten Aufgebot orientiert, respektive am Spiel gegen Schweden. «Weil ich bin der Meinung, das war in den letzten Monaten das beste Spiel. Sie haben eine sehr gute Performance hingelegt und hätten mindestens ein Unentschieden verdient gehabt.» Die Schweiz unterlag Schweden auswärts mit 0:1 und war in der Tat nahe dran, gegen die Weltranglistenersten zu punkten.
Auch deshalb dürfte Gertschen zum Schluss gekommen sein: «Alles über den Haufen zu werfen, bringt sicher nichts.» Am Mittwoch habe er dann gemeinsam mit dem Staff alles besprochen und den finalen Kader ausdiskutiert. Mit den Spielerinnen selbst hat er bewusst noch keine Gespräche geführt. «Mir ist es wichtig, den ersten Kontakt persönlich zu machen. Ich möchte dem Gegenüber in die Augen schauen.» Der erste Eindruck sei ihm wichtig – «und der wird am Montag erfolgen und nicht früher».
Was ist das Ziel für die beiden Spiele?
Nach vier Spielen steht die Schweiz mit 0 Punkten am Tabellenende, Italien als Tabellendritter hat 4 Punkte auf dem Konto. Stand jetzt ist es also noch möglich, Italien zu überholen und den Abstieg abzuwenden. Gertschen nimmt diesbezüglich aber Druck vom Kessel: «Das Ziel wird sein, einen stabilen, souveränen und freudigen Auftritt hinzkukriegen, damit wir das Jahr mit einem guten Gefühl abschliessen können.»
Natürlich gebe es noch eine kleine Chance, nicht abzusteigen, aber «das ist im Moment nicht mein Fokus». Er ist sich bewusst, dass alles zusammenpassen muss, damit die Schweiz gegen Schweden, noch immer die Weltnummer 1 im Fifa-Ranking, punkten kann. Und mindestens einen Punkt müsste die Schweiz holen, ansonsten ist der Abstieg schon vor dem letzten Spiel auswärts in Italien besiegelt. Und so sagt er: «Ich glaube, wichtig ist eher, gegen aussen zu zeigen, dass wir eine gute oder sehr gute Leistung abrufen können. Das ist im Moment prioritär.»
Ist Gertschen wirklich nur ein Trainer auf Zeit?
Darauf angesprochen, ob es bereits jetzt klar sei, dass er nur für zwei Spiele an der Seitenlinie stehe, antwortet Gertschen: «Es ist klar, dass es für die zwei Spiele ist.» Damit schliesst er die Türe für ein längerfristiges Engagement aber nicht, zumal er nachschiebt: «Alles andere ist hypothetisch. Heisst, im Fussball wissen wir, was passiert, was passieren kann.» Sein Commitment habe er aber für die kommenden zehn Tage gegeben, er habe sich auch noch gar keine Gedanken darüber hinaus gemacht.
Sollte die Schweizer Nati ein bislang enttäuschendes Jahr mit nur einem Sieg aus 14 Spielen nun tatsächlich positiv abschliessen, im Idealfall gar mit dem Verhindern des Abstiegs, so müsste man sich zumindest von Verbandsseite ernsthaft mit der Personalie Gertschen befassen. Und eine reizvolle Aufgabe könnte es ja durchaus sein, steht doch die Heim-EM 2025 vor der Tür.