Das grosse Yakin-Interview, Teil 1 «Mit Stürmern haben wir kein Problem»

Von Michael Angele

9.6.2023

Murat Yakin trifft mit der Nati als nächstes auf Andorra.
Murat Yakin trifft mit der Nati als nächstes auf Andorra.
Imago

Vor den nächsten EM-Qualispielen spricht Nati-Trainer Murat Yakin mit blue Sport über das weitere Programm. Ausserdem beantwortet er auch die schweizerischste aller Fragen und mag das Thema Dreierkette nicht besonders.

Von Michael Angele

Das ist der erste Teil des grossen Interviews mit Murat Yakin. Den zweiten Teil des Interviews findest du hier.

Das Land ist für seine Skiorte bekannt und für seine Steueroasen. Von welchem Land ist hier die Rede, Murat Yakin?

Skiorte klar, aber Steueroasen?

Kleines Land, Fussball nicht so schlecht, sage ich mal.

Sind Sie wirklich Sportjournalist oder doch eher etwas anderes?

Ich spreche von Andorra! Nächster Gegner der Nati.

Alles klar.

Andorra hat einen Punkt in der Gruppe. Dazu reichte ein einziges Tor zum 1:1 gegen den Kosovo. Nach einem Standard. Wie breitet man sich darauf vor? Kann man überhaupt?

Es gibt Listen für stehende Bälle bei jedem Gegner, die die Spieler mit auf den Weg bekommen. Das ist bei jedem Spiel so. Nichts wird da dem Zufall überlassen. Und wir schauen uns ja nicht nur das letzte Spiel an, sondern die letzten sechs, sieben Spiele an. Von jedem Gegner. Am Ende zählt für uns aber eher, wie wir ein Tor machen können und nicht, wie der Gegner es bekommen hat. Es ist wirklich so, auch wenn man es vielleicht nicht mehr hören mag: Egal, ob der Gegner gross, klein oder mittel ist, wir versuchen unser Spiel durchzuziehen.

Am 19. Juni geht es dann gegen Rumänien. Kurzer Blick zurück: Das legendäre 4:1 an der WM in den USA 1990. Adrian Knup Doppeltorschütze. Für Rumänien hat – natürlich – Gheorge Hagi getroffen. Man schaute ihm einfach gerne zu. Aber die klassische 10 gibt es so ja nicht mehr, oder?

Shaqiri vielleicht, oder Dybala, das ist ein ähnlicher Typus. Kreativ, hängende Spitze, wenn man so will.

Aber die Tendenz ist schon eher, das spielgestaltende Element auf mehrere Spieler zu verteilen.

Das ist nicht zwingend, wenn du einen Künstler hast, als Trainer, einer, der dem Spiel und der Mannschaft gut tut: Warum solltest du dann auf ihn verzichten? Man kann nicht von vornherein sagen, wir spielen immer genau gleich. Je nach Gegner kann man das Spielsystem anpassen, auch auf einen einzelnen Spieler.

Andere grosse Frage der Zeit: Die Krise des Mittelstürmers. Die Bundesliga, die deutsche Nationalmannschaft hat massive Probleme damit. Warum? Liegt das in der Entwicklungslogik des Fussballs? Oder fehlt denen zufällig gerade einer?

Es ist nicht nur in Deutschland so, auch in Italien. Bestimmt hat es auch mit der ökonomischen Situation zu tun. Wenn du als Verein das grosse Geld hast, kaufst du die guten Spieler ein. Da kommt dann die Ausbildung der lokalen Spieler zu kurz. Diese Tendenz gibt es in den grossen Ligen. Da können wir in der Schweiz aus einer Schwäche eine Stärke machen. Weil die Liga wirtschaftlich nicht gleich stark ist wie die grossen Ligen Europas, können wir Spezialisten ausbilden. Goalies, Stürmer. Mit Stürmern haben wir kein Problem.

Nicht zuletzt wegen Breel Embolo. Aber ist der überhaupt ein klassischer Stürmer? Ist er nicht eine falsche 9, wie man gerne sagt?

Breel Embolo ist tatsächlich gerade kein ausgebildeter Stürmer. Als ich Trainer beim FC Basel war, habe ich ihn als 8er aufgezogen. Breel hat gewisse Abläufe, die für einen Stürmer untypisch sind, gewisse Automatismen. Er agiert vorne instinktiv und kann durch seine Kraft und Dynamik enorm viel wettmachen. Aber wir haben noch mehr als Breel: Haris Seferovic, Andi Zeqiri, Cédric Itten oder Zeki Amdouni, der Riesenqualitäten hat.

Was Amdouni und Embolo vielleicht verbindet: Sie lassen sich weit zurückfallen.

Das ist so. Das ist die Tendenz.

Ist das eine Entwicklung im Fussball, die sich gar nicht vermeiden lässt?

Es kommt schon auf den Gegner an. Allgemein aber ist er auf dem Niveau, von dem wir sprechen, heute gut organisiert. Und das bedeutet dann, wie wir aus den Statistiken wissen: Willst du das Spiel unter Kontrolle bringen, musst du hoch attackieren. Und die Spieler prinzipiell höher stellen. Das ist der Grund, warum sich Stürmer auch mal fallen lassen: Damit sie mehr Ballkontakte haben.

Sie haben trotzdem ein Problem. Nicht im Sturm ...

Sie spielen auf die Aussenverteidiger an. Da haben andere Nationen vielleicht etwas mehr zu bieten. Und doch sind wir mit Rodriguez und Widmer sehr gut besetzt. Was uns fehlt, ist die grosse Auswahl wie beispielsweise im zentralen Mittelfeld.

Dennoch. Die Quali läuft bisher super. Zwei Siege. Acht Tore. Kein Gegentor. Jetzt müssen Sie nur aufpassen, dass die Konzentration nicht nachlässt, kein Schlendrian einzieht.

Wir gestalten das Programm mit einer gewissen Gelassenheit, aber doch mit hoher Ernsthaftigkeit. Hinzu kommt: Wir haben ja den Kader wieder etwas verändert, nachjustiert. Da sind die bewährten Spieler, die in ihrer Liga auch spielen. Dann gibt es aber neue Spieler, die sich aufdrängen, durch Leistung, Einsatz. Stürmer, die Tore schiessen. Das Momentum, das uns so wichtig ist bei unserer Auswahl, belebt natürlich das Team.

Sie meinen, es schafft Konkurrenz.

So ist es.

Nominieren Sie eigentlich mehr Spieler aus der Super League als Ihr Vorgänger? Gibt es da Zahlen? Mir drängt sich der Eindruck auf. Und dass Sie das mit Absicht tun.

Sehen Sie, gleich bei der ersten Zusammenkunft unter mir als Nationaltrainer fehlten Shaqri, Embolo, Haris Seferovic hatte sich verletzt, Granit war Corona-krank, Remo Freuler war gesperrt. Das einzige, was ich hatte, waren die Verteidiger und die offensiven Mittelfeldspieler. Ich musste also improvisieren. Wir schrieben September. Das heisst: Die meisten Top-5-Ligen waren noch gar nicht im Rhythmus. Aber in der Schweiz lief die Meisterschaft schon seit August! Da musste und konnte ich auf Spieler unserer Liga zurückgreifen.

Okay. Aber als Aussenstehender hat man zumindest den Eindruck, dass es Ihnen Spass macht, überraschende Lösungen aus der Liga zu präsentieren. Letztes Jahr Mattia Bottani von Lugano, im März Dominik Schmid von den Grasshoppers. Oder irre ich mich schon wieder?

Wir wollen einem Spieler eine Chance geben. Nehmen wir Dominik Schmid. Wir haben vorhin von den Aussenverteidigern gesprochen. Da ergab sich eben die Situation, dass wir keinen Linksfuss als Back-up auf der linken Seite hatten. Und Dominik als Captain von GC, mit seiner Schnelligkeit und den Assists, die er immer wieder gegeben hat, ist ein Linksfuss. Und wenn ich einen habe, dann muss ich nicht etwas kompensieren. Wie damals mit Lahm bei Deutschland.

Gegen Andorra ist nun Linksverteidiger und Linksfuss Ulysses Garcia von YB wieder im Kader.

Ulysses hat eine gute Saison gespielt und sich wieder aufgedrängt. Auch für ihn gilt als Meister und Cupsieger das Momentum. Er ist gut im Spiel nach vorne und im Flankenspiel, das kommt ihm gerade gegen tiefstehende Gegner entgegen.

Allgemein gefragt. Gibt es vom Verband wirklich keine Wünsche, möglichst auch Spieler aus der heimischen Liga zu berücksichtigen?

Warum sollte es?

Weil es das Prestige der heimischen Liga erhöht.

Wir haben 50 bis 60 Schweizer, die im Ausland spielen.

Aber die Pikett-Liste ist voller Spieler der heimischen Liga.

Wir wollen begabten Spielern früh eine Chance geben. Fabian Rieder, Zeki Amdouni, wir wollen solche Spieler nicht erst integrieren, wenn ein verdienter Spieler aufhört, und da spielen sie eben noch in der Super League.

Es ist einfach schön, dass diese Talente «gesehen» werden, dieses Gefühl hatte man beim Vorgänger nicht. Umgekehrt ist es sicher nicht leicht, wenn man einen verdienten Spieler mal aussen vor lässt.

Wenn ein Spieler im Ausland nicht so zum Zug kommt, dann muss ich ihm schon sagen, dass das Leistungsprinzip zählt. Aber dann helfen wir ihm vielleicht, dass er einen anderen Verein sucht. Das liegt ja auch in unserer Verantwortung.

Sie nehmen da Einfluss?

Wir wollen nun nicht dem Berater reinreden. Aber wenn wir sehen, dass ein so wertvoller Spieler wie Denis Zakaria bei Chelsea sechs Monate nicht spielt, dann muss man doch etwas tun. Jedenfalls lassen wir ihn nicht hängen.

Berater sind doch die Pest. Ist es nicht fast eine Hauptnebenaufgabe, sie fernzuhalten?

Es gibt gute und weniger gute.

Aber man hat schon den Eindruck, dass sie immer mehr Macht haben.

Das ist ein anderes Thema. Bei der heutigen Generation von Spielern ist es schon notwendig, dass sie nicht nur beraten werden, sondern dass sie gut beraten sind. (Lacht) Man nimmt ihnen alles ab. Sie müssen sich um wenig kümmern. Ich will die Spieler in diesem Punkt aber auch mal verteidigen: Es hängt schon auch damit zusammen, dass die Herausforderungen für einen Spitzenfussballer enorm zugenommen haben, sie haben schlicht keine Zeit mehr. Neben dem Sportlichen sind Themen wie Regeneration, Marketing- und Presseaufgaben in den Vereinen stark professionalisiert worden. Früher war man selbständiger und hatte mehr Freizeit.

Das ist der erste Teil des grossen Interviews mit Murat Yakin. Den zweiten Teil des Interviews findest du hier.

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