Penalty nach Schlusspfiff Irre Szenen bei Herzschlagfinale zwischen Atlético und Bayer Leverkusen

Von Tobias Benz

27.10.2022

Dramatisches Aus für Atlético

Dramatisches Aus für Atlético

Atlético Madrid kommt trotz drückender Überlegenheit in der zweiten Hälfte nicht über ein 2:2 hinaus. Der dramatische Schlusspunkt: In der 99. Minute scheiterte Yannick Carrasco mit seinem Penalty am Leverkusen-Torhüter.

27.10.2022

Verrückte Nachspielzeit im Wanda Metropolitano. Ein Elfmeter nach dem Schlusspfiff besiegelt das Champions-League-Aus von Atlético Madrid. Wie geht das und was ist passiert?

Von Tobias Benz

Wanda Metropolitano, 96. Minute, 2:2. Clément Turpin nimmt die Pfeife in den Mund. Im Hexenkessel der spanischen Hauptstadt hagelt es Pfiffe und Buhrufe. Der französische Schiedsrichter droht mit dem fristgerechten Schlusspfiff nach fünfeinhalb gespielten Nachspielminuten das vorzeitige Champions-League-Aus der heiss geliebten Rojiblancos zu besiegeln. Und das in der Gruppenphase gegen Bayer Leverkusen – ein wahr gewordener Albtraum für die hauptstädtische Arbeiterklasse.

Doch ausser Frust bleibt nicht viel übrig. Kurz, kurz, lang – mit der gefürchtetsten Tonleiter der Trillerpfeife beendet Turpin die Partie. Ein gellendes Pfeifkonzert erfüllt die imposante Arena. Doch – man hört es kaum – der dritte Atemstoss des 40-Jährigen findet gar nicht statt. Inmitten des Abpfiffs bricht Turpin diesen ab und fasst sich ans Ohr. Der VAR funkt.

Das Stadion steht kopf. Xabi Alonsos halbe Bayer-Belegschaft steht zu diesem Zeitpunkt bereits auf dem Rasen, gratuliert den eigenen Akteuren zum wichtigen Punkt. Mit dem hart erkämpften 2:2 wäre die Qualifikation für die Europa League als Drittplatzierter nach wie vor möglich. Aber was jetzt? Wilde Diskussionen starten. Doch das Regelwerk ist klar: Selbst wenn Turpin das Spiel bereits abgepfiffen hat – der VAR darf sich immer noch einschalten, sofern die zu beurteilende Szene vor dem Schlusspfiff stattfand.

Auch beim Heimteam herrscht Verwirrung. Irgendwo zwischen Hoffnung und Verzweiflung rückt ein später Siegtreffer plötzlich in greifbare Nähe. Wie wichtig das wäre! Ein Tor und die Madrilenen stünden am letzten Spieltag vor einem Finalspiel um die Achtelfinal-Qualifikation gegen den FC Porto. Und tatsächlich: Turpin will sich die Ecke trotz Schlusspfiff noch einmal ansehen.

Im Wanda brechen alle Dämme. Xabi Alonso ist ausser sich, Diego Simeone auf einem anderen Planeten. Der Videoschiedsrichter will ein mögliches Handspiel gesehen haben. Unter allgemeinen Tumulten kämpft sich Turpin an den kleinen Bildschirm am Spielfeldrand, schaut sich die Szene für eine gefühlte Ewigkeit an und bringt das Stadion dann zum Überkochen. Penalty in der 99. Minute. Vier Minuten nach Abpfiff sozusagen.

Handspiel? Für diese Aktion gab es am Mittwoch Penalty.
Handspiel? Für diese Aktion gab es am Mittwoch Penalty.

Mit gemeinsamen Kräften

Die Leverkusener drehen an der Seitenlinie jetzt komplett durch. Ersatztorwart Andrey Lunev muss von mehreren Personen zurückgehalten werden. Irgendwie schafft es Turpin, keine Karten zu zücken. Sein Entscheid aber ist unumstösslich. Und so heisst es kurz vor Ablauf der 100. Minute Yannick Carrasco gegen Lukas Hradecky. Der Fussballtempel hält den Atem an. Vorbereitung aufs Delirium.

Doch dem 29-Jährigen versagen die Nerven. Mit viel zu viel Anlauf scheitert der klägliche Strafstoss des Belgiers am brillant parierenden Finnen. Aber der Bayer-Keeper kann die Kugel nicht festmachen und muss zusehen, wie sie direkt auf den Kopf von Saul Niguez fällt, der mit vollem Tempo Richtung Tor geschossen kommt – und das Leder an die Latte setzt.

Schnappatmung bei 68'000 Atléti-Fans. Doch die Szene ist immer noch nicht vorbei. Von der Latte fliegt der Ball erneut zurück in den Sechzehner. Dieses Mal steht Aussenverteidiger Reinildo Mandava goldrichtig und feuert einen satt getretenen Halb-Volley aus kürzester Distanz in Richtung Tor. Das muss es sein! Denkste. Kurz vor der Linie steht Mitchel Bakker und lenkt die Kugel nur Zentimeter über das Gehäuse. Oder war es gar Pechvogel Carrasco, der das Tor verhindert? Man weiss es nicht.

Die heissblütigen Atlético-Fans sind am Ende ihrer Kräfte. Von den Rängen müssen sie mitansehen, wie der Niederländer die Abwehraktion in einer Art Tobsuchtsanfall mitten im Gesicht des unglücklichen Carrascos abfeiert und den nun garantierten Schlusspfiff heraufbeschwört.

Wilde Diskussionen überschatten die letzten Spielminuten.
Wilde Diskussionen überschatten die letzten Spielminuten.
KEYSTONE

Aber dieser kommt immer noch nicht. Turpin fasst sich schon wieder ans Ohr. Stand Hradecky zum Zeitpunkt der Schussabgabe etwa nicht auf der Linie? Bei Alonso gibt es kein Halten mehr. Seine komplette Entourage im Rücken stürmt der Bayer-Coach das Spielfeld und will den Franzosen zur Rede stellen. Auch Simeone scheint wieder zu wissen, wo unten und oben ist, und marschiert los. Doch bevor es zur grossen Konfrontation kommt, funkt der VAR sein Einverständnis. Der Elfmeter wird nicht wiederholt. Das Spiel ist aus. Atlético Madrid muss sich aus der Champions League verabschieden.

Was für ein Drama!

In Porto wird der Ausgang des Herzschlagfinals zwischen den beiden Gruppengegner derweil frenetisch bejubelt. Die Portugiesen, die zum Zeitpunkt des Spektakels bereits im Flieger sitzen, sind damit definitiv für die K.o.-Phase qualifiziert.

Atlético – Leverkusen 2:2

Atlético – Leverkusen 2:2

UEFA Champions League, Gruppe B, Matchday 5

26.10.2022