Kolumne Zersiedelung – was dazu zu sagen ist

Michael Angele

28.2.2019

Allerorten wird gebaut hierzulande, nein, zersiedelt.
Allerorten wird gebaut hierzulande, nein, zersiedelt.
Bild: Keystone

Wenn der Prozess der Zubetonierung hierzulande schon unvermeidlich ist, dann sollte er spektakulär und wild vonstatten gehen. Wie die Schweizer Natur war. Und immer noch ein wenig ist.

Als ich Kind war, hing eine Bildergeschichte an den Wänden der Klassenzimmer. Auf dem ersten Bild sah man einen Bauernhof, sonst alles grün. Auf dem zweiten ein Silo neben dem Bauernhof, sonst alles grün. Auf dem dritten ein paar Einfamilienhäuser um den Bauernhof, sonst alles grün. Und dann hing dort ein Bild mit einer einzigen Stadt, ohne Bauernhof, ohne Grün.

So erinnere ich es. Das war vor vierzig Jahren. Wir befinden uns immer noch in diesem Prozess. Er ist schleichend. Die Schweizer merken es gar nicht mehr, denke ich jedesmal, wenn ich meine Heimat besuche und durchs Mittelland fahre. Und ich dachte es neulich wieder laut, als ich von der klaren Ablehnung der Zersiedelungsinitiative las.

Zustände wie in L.A.

Die Schweiz hat der deutschen Sprachgemeinschaft in den letzten Jahren zwei Wörter geschenkt: Agglo und Dichtestress. Nun hörte ich, dass der Bundesrat die wichtigsten Autobahnstecken in den nächsten zwanzig bis dreissig Jahren mindestens sechsspurig ausbauen will. Es gibt Gründe dafür, der Stau scheint an machen Stellen an Zustände in L.A. zu erinnern, und die Mobilität steigt stetig. Es geht also vernünftig zu.

In der Sendung «Rundschau» am Mittwochabend meinte ein Bündner CVP-Nationalrat, der für den Ausbau ist, dass er der grösste Fan der SBB sei. Die Schweiz hat das dichteste Schienennetz der Welt, damit gebe auch ich manchmal bei den Deutschen an. Man muss die Bahn nutzen, wann immer es sinnvoll ist, sagte der CVP-Politiker. Sagen wohl alle, ausser vielleicht Herr Scherrer von der Autopartei, auch so ein Relikt meiner Jugend, das es tatsächlich noch gibt.

Elend Montblanc

Die Schweiz ist vollkommen vernünftig, und sie wird in absehbarer Zeit vollkommen zugebaut sein. Das ist die Lage. Wie auf dem Poster aus den 1970er Jahren. Dann kamen die 8oer Jahre – und die Jugend begehrte auf. Die Wut richtete sich nicht zuletzt gegen den kalten Beton von Fassaden, Unterführungen, Überbrückungen. Wer sich vor Augen führen will, wie das mit dem Beton damals war, muss den Bildband Schmieren/Kleben anschauen. Klar, die Schweizer mögen ihren ganzen Beton immer noch nicht. «Beton macht immer no chrank», das sprayt aber keiner mehr, oder irre ich mich? Ich vermute, dass das gestörte Verhältnis der Schweizer zum Beton etwas mit den Alpen zu tun haben könnte. Ein Psychoanalytiker könnte es vielleicht genauer erklären.

Das Land ist klein, aber wenigstens ist es hoch. Deshalb gibt es den mächtigen Stolz auf die 4'000er, schon ein Elend, dass der Montblanc ausgerechnet in Frankreich liegt. Nun könnte aus dieser Bewunderung der Alpengipfel auch die Liebe zu den Hochhäusern wachsen. Tut sie aber nicht.

In Biel zum Beispiel gibt es das Kongresshaus von Max Schlump. Sichtbeton und Glas, massiver Turm und elegantes Hängedach, eines der grössten Europas. Es ist aus der Zeit, als Biel die «Zukunftsstadt» genannt wurde. Das Kongresshaus fehlt in den meisten Werbungen für die Stadt. Man lockt mit der in Wahrheit kümmerlichen Altstadt. Was ich sagen will: Wenn der Prozess der Zubetonierung schon unvermeidlich ist, dann sollte er spektakulär und wild vonstatten gehen. Wie die Schweizer Natur war. Und immer noch ein wenig ist.

Künftig liefert der Berner Michael Angele hier regelmässig eine Aussenansicht aus Berlin – Schweizerisches und Deutsches betreffend.

Michael Angele, 55, bildet zusammen mit Jakob Augstein die Chefredaktion der Wochenzeitung «Der Freitag». Angele ist im Seeland aufgewachsen und lebt seit vielen Jahren in Berlin. Berndeutsch kann er aber immer noch perfekt. Als Buchautor erschienen von ihm zuletzt «Der letzte Zeitungsleser» und «Schirrmacher. Ein Porträt».

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