Corona-SommerwelleSteigende Zahlen, der Bundesrat in den Ferien – das sagt der Experte
Von Anna Kappeler und Uz Rieger
30.6.2022
Die Sommerwelle ist da, Spitäler kehren zur Maskenpflicht zurück. Keinen Handlungsbedarf sieht der Bundesrat. Er verabschiedet sich in die Sommerpause. Der oberste Kantonsarzt warnt vor Alarmismus – und plädiert zur Vorsicht.
Von Anna Kappeler und Uz Rieger
30.06.2022, 15:13
30.06.2022, 15:19
Von Anna Kappeler und Uz Rieger
Die aktuellen Zahlen des Bundesamts für Gesundheit BAG zeigen eine deutliche Tendenz: Am Dienstag wurden innerhalb von sieben Tagen 33'108 Neuinfektionen gemeldet. Die Fallzahlen stiegen damit innert Wochenfrist um 34 Prozent. Auch die Spitaleintritte nahmen im Vergleich zur Vorwoche um 19,5 Prozent zu.
Das BAG bleibt unterdessen bei seiner Lagebeurteilung, wonach der Anstieg angesichts der verbreiteten Immunität in der Bevölkerung und der Saisonalität von Sars-CoV-2 nicht zu einer schweren Belastung des Gesundheitssystems führen werde.
Ebenfalls teilte der Bundesrat nach seiner Sitzung am Donnerstag mit, man halte eine entsprechende Belastung der Spitäler für «wenig wahrscheinlich».
Allerdings warnt die Landesregierung auch, dass in den kommenden Monaten bis zum Frühling 2023 «eine erhöhte Wachsamkeit und Reaktionsfähigkeit notwendig sei, um bei Bedarf rechtzeitig geeignete Massnahmen ergreifen zu können». Mit dem Wechsel in die normale Lage nach dem Epidemiengesetz am 1. April seien nun wieder die Kantone «für die Anordnung von Massnahmen» zuständig.
Bereits alarmiert ist man hingegen in immer mehr Spitälern: Sie führen die allgemeine Maskenpflicht wieder ein, nachdem sie zwischenzeitlich aufgehoben wurde. Seit dem 1. Juni gilt sie etwa wieder im Spitalzentrum Oberwallis SZO, seit dem 24. Juni im Spital Bülach und seit vergangenem Montag im Kantonsspital Winterthur (KSW). Maskenpflicht herrscht ebenfalls im Universitätsspital Zürich (USZ) und dem Spital Limmattal. Die Leitung des Kantonsspital Graubünden kündigte heute die Pflicht zur Maske in «allen öffentlichen Bereichen» ab dem 1. Juli an.
Kurz: Die Lage ist nicht eindeutig – und auch die offiziellen Botschaften aus Politik und von Experten dürften sich für manchen widersprüchlich ausnehmen. Blue News hat beim obersten Kantonsarzt Rudolf Hauri nachgefragt, wie er die Lage einschätzt.
Herr Hauri, der Bundesrat sieht derzeit keinen Handlungsbedarf und geht in die Ferien. Ist das aus epidemiologischer Sicht richtig?
Zur Person
KEYSTONE
Rudolf Hauri ist Facharzt für Rechtsmedizin. Seit dem Jahr 2002 ist er Kantonsarzt des Kantons Zug, seit 2017 auch Präsident der Vereinigung der Kantonsärzte und -ärztinnen der Schweiz.
Hauri: Es gilt, aufmerksam zu bleiben und die Situation zu beobachten. Zentral für die Lagebeurteilung ist weiterhin die Belastung des Gesundheitssystems. Derzeit ist nicht davon auszugehen, dass die aktuell beobachtete steigende Spitalbelastung nicht bewältigt werden kann.
Dominante Omikron-Varianten verursachen angeblich keine schweren Verläufe. Können wir den Sommer also entspannt geniessen?
Es ist nicht richtig, dass die kursierenden Omikron-Varianten keine schweren Krankheitsverläufe auslösen können. Tatsächlich gibt es aber keine Hinweise, dass sie bei uns vermehrt schwere Verläufe hervorrufen. Alarmismus ist deshalb bei der aktuellen Bewegung der Fallzahlen nicht angebracht und den Sommer dürfen wir geniessen.
Völlige Sorglosigkeit ist aber auch nicht am Platz. Insbesondere beim Kontakt zu gefährdeten Personen oder in exponierten Gesundheitsinstitutionen hat es zum Beispiel durchaus einen Sinn, weiterhin oder wieder eine Maske zu tragen. Auch ist Rücksicht auf die Mitmenschen eine Selbstverständlichkeit. Wer Symptome hat, soll nicht oder zumindest nicht ungeschützt zur Arbeit gehen oder etwa andere umarmen, sondern Abstand halten. Auch gelten die bekannten Hygieneregeln weiterhin. Die Pandemie ist nicht einfach vorbei.
Können die jetzt zuständigen Kantone eine weitere Corona-Welle verhindern?
Die Zuständigkeit entspricht der Kompetenzverteilung, wie sie im Epidemiengesetz angelegt ist. In der normalen Lage liegen die meisten Aufgaben zur Pandemiebewältigung in der Verantwortung der Kantone. Dazu gehören neben der Bereitstellung der Behandlungs-, Test- und Impfkapazitäten auch allfällige Massnahmen zum Schutz der Bevölkerung.
Der Austausch zwischen Kantonen, Bund und Wissenschaft ist auch während der Sommerferienzeit sichergestellt. Die GDK hat in der Sommerzeit wie auch für die folgenden Monate ein Bereitschaftsdispositiv. Sie wird in ihrer Rolle als Koordinationsorgan bei einer epidemiologisch angespannten Lage, welche die Gesundheitsversorgung schweizweit oder überregional in Bedrängnis bringen könnte, verhältnismässige Massnahmen ausarbeiten und empfehlen.
Krisenmanagement des Bundes in zweiter Phase zu wenig vorausschauend
Der Bundesverwaltung fehlte es teilweise an vorausschauendem
Krisenmanagement in der zweiten Phase der Covid-19-Pandemie. Zu diesem
Schluss kommt eine am Mittwoch veröffentlichte Auswertung der
Bundeskanzlei im Auftrag des Bundesrates.
22.06.2022
Wir sind längst nicht mehr in einer Phase, in der es um die Verhinderung einer Welle geht. Die Grundimmunisierung schützt die Bevölkerung grundsätzlich gut vor schweren Verläufen. Daher gibt es aktuell auch keinen Grund, etwas an den üblichen Zuständigkeiten in der normalen Lage zu ändern.
Braucht es jetzt in Spitälern und anderen Orten wieder eine Maskenpflicht?
Die Kantone sind aufmerksam und die behördliche Reaktionsfähigkeit, soweit sie auf kantonaler Ebene sinnvoll ist, ist in der Tat gegeben. In Gesundheitseinrichtungen wie Spitälern, Praxen, sozialmedizinischen Einrichtungen etc. ist es durchaus sinnvoll, nach einer Risikoabwägung und fachlichen Kriterien und Empfehlungen zum gezielten Schutz geschwächter Personen Masken zu tragen.
Entscheide über den Einsatz und die Art und Weise von Schutzmassnahmen gehören aber in den alltäglichen Zuständigkeitsbereich der Institutionen selbst. Dazu braucht es keine spezifischen behördlichen Anordnungen. Eine generelle Maskentragpflicht nur im öffentlichen Verkehr hat keinen Einfluss auf Virusübertragungen bei anderen Menschenansammlungen und demzufolge derzeit als isolierte Massnahme keine relevante Bedeutung.
Was wird uns im Herbst und Winter erwarten?
Der Bund hat in seinem Grundlagenpapier mögliche Szenarien beschrieben. Wie sich das Infektionsgeschehen in den Herbst- und Wintermonaten 2022/23 tatsächlich entwickeln wird, lässt sich nicht zuverlässig voraussagen.
Aufgrund der Erfahrungen in den ersten beiden Pandemiejahren und aus früheren Pandemien ist es aber plausibel, dass die Zahl der Ansteckungen saisonal im Herbst ansteigen wird. Offen ist, welche Varianten mit welcher gesundheitlichen Bedeutung dominant sein und welche zugelassenen Impfstoffe bei welchen Personengruppen gegebenenfalls zu einer Stärkung der Grundimmunität führen werden.
Der Bundesrat hat am Mittwoch angekündigt, dass das BAG und die eidgenössische Impfkommission EKIF noch vor den Sommerferien über die aktualisierten Impfempfehlungen informieren werden. Das hilft den Kantonen bei ihrer Planung. Diese sind sich bewusst, dass eine allenfalls notwendige weitere Auffrischimpfung möglichst zeitnah nach der erlassenen Empfehlung angeboten werden muss, wobei die Impfung der breiten Bevölkerung nicht im primären Fokus steht.