Die Corona-Infektionen nehmen wieder deutlich zu. Neben neuen Varianten sind dafür auch länger zurückliegende Impfungen verantwortlich. Warum wird trotzdem kein zweiter Booster für alle empfohlen?
uri
19.06.2022, 11:29
uri
Die Hoffnung auf sinkende Fallzahlen in den Sommermonaten war gross. Nun ist das Gegenteil eingetreten. Wie in den Nachbarländern Deutschland und Österreich passiert auch in der Schweiz, was viele Expert*innen befürchtet haben: Innerhalb einer Woche sind die Fallzahlen deutlich gestiegen – und zwar um 61,4 Prozent, wie das BAG am Dienstag meldete. Auch die Spitaleinweisungen nahmen um 22,4 Prozent zu.
Was sind die Gründe für den Anstieg bei den Infektionen?
Eine Ursache für den Fallanstieg ist laut Expert*innen der Vormarsch der Omikron-Untervarianten BA.4 und BA.5. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) stuft sie als «besorgniserregende Varianten» ein. Das vor allem, weil sie offenbar noch besser als andere Varianten den Immunschutz umgehen können. Nach Schätzung des Berner Epidemiologen Christian Althaus werden sich noch «rund 15 Prozent der Bevölkerung der Schweiz mit BA.5 anstecken», bis der R-Wert wieder entsprechend absinke, wie er dem Portal Watson sagte. Immerhin gibt es dafür aber bisher auch keine Hinweise, dass die Varianten schwere Verläufe nach sich ziehen.
Als weiterer Grund für die Zunahme der Covid-Infektionen gilt – neben der Aufgabe so gut wie aller Massnahmen – dass die Booster-Impfung bei vielen Personen bereits länger zurückliegt. So nimmt der Schutz vor einer Covid-Ansteckung bereits nach rund drei bis vier Monaten nach der dritten Impfung deutlich ab, wie Studien belegen.
Wer bekommt bereits eine vierte Impfung in der Schweiz?
In der Schweiz wird eine vierte Impfdosis bislang nicht allen empfohlen. Für Personen mit einem stark geschwächten Immunsystem ist jedoch «eine weitere Auffrischimpfung seit einigen Wochen verfügbar», wie BAG-Sprecher Simon Ming auf Nachfrage mitteilt. Die Empfehlung gilt aber nur, wenn diese Auffrischung «nach Evaluation des behandelnden Arztes oder der behandelnden Ärztin erfolgversprechend ist», wie es in einer BAG-Mitteilung heisst. Alle anderen Personen ab 12 Jahren brauchen laut dem BAG derzeit keinen zweiten Booster. Hier reiche eine Auffrischimpfung nach der Grundimmunisierung nach aktuellem Stand aus.
Wer dennoch eine zweite Booster-Impfung haben möchte – auch weil man sie etwa für eine Reise ins Ausland benötigt – kann sich auch in der Schweiz künftig eine vierte Impfdosis spritzen lassen. In diesem Fall sind die Kosten allerdings selbst zu tragen. Der Kanton Basel-Stadt kündigte bereits an, die vierte Dosis ab dem 22. Juni für Personen ab 12 Jahren zuzulassen, sofern die dritte Impfung mindestens vier Monate zurückliegt. Sie wird dann 60 Franken kosten. Einen Tag später folgt der Kanton Bern mit gleichlautenden Regelungen.
Ab 23.6. kann man sich im Kanton Bern auf eigene Kosten ein zweites Mal boostern lassen. Der Richtpreis beträgt 60 Franken. Die Anmeldung erfolgt direkt über die Impforte. ➡️ https://t.co/8iAQgJNGcHpic.twitter.com/ZSWXoXhqeF
Warum gibt es noch keine generelle Empfehlung für eine vierte Impfung?
«Wer vollständig geimpft oder geimpft und genesen ist», sei «gemäss aktuellen Daten und in der aktuellen Lage nach wie vor gut gegen eine schwere Covid-19-Erkrankung geschützt», teilt BAG-Sprecher Ming mit. Auch für besonders gefährdete Personen sei es sinnvoller, eine weitere Auffrischimpfung erst dann durchzuführen, «wenn die Infektionszahlen wieder ansteigen, weil der Impfschutz in den Wochen und Monate nach der Impfung am höchsten ist.»
Die wirklich kritische Zeit sieht man im BAG trotz des zuletzt deutlichen Anstiegs der Fälle noch nicht gekommen. Dieser wird offenbar erst in einigen Monaten erwartet, wenn es auch wieder kälter wird: Deshalb sei «für den Herbst (... ) eine Erweiterung des Personenkreises, für welche eine weitere Auffrischimpfung empfohlen wird, wahrscheinlich», so Ming. Werde sich die Situation aber ändern, könne die Impfempfehlung «bereits früher entsprechend angepasst werden.»
Die Haltung des BAG wird durch wissenschaftliche Befunde unterstützt. Demnach haben die meisten gesunden Menschen bereits nach der dritten Impfung ausreichend viele Antikörper, Gedächtniszellen und T-Zellen im Körper, um gut vor einer schweren Covid-Erkrankung geschützt zu sein. Der Nutzen einer vierten Impfung wird für den grössten Teil der Bevölkerung vor diesem Hintergrund als gering eingeschätzt. Zudem belegt eine Studie aus Israel, dass die Zahl der Antikörper nach einer vierten Impfung nicht über das Niveau der dritten steigt – und die Zahl der Antikörper nach einigen Wochen auch wieder deutlich sinkt.
Welche Impfstoffe kommen infrage?
In der Schweiz werden die mRNA-Impfstoffe von Biontech und Moderna für eine Auffrischungsimpfung empfohlen. Auch eine Auffrischimpfung mit dem Vektorimpfstoff von Janssen ist laut Swissmedic möglich.
Die Pharmaunternehmen arbeiten zudem bereits an Impfstoffen, die besser gegen die Omikron-Variante schützen sollen. Zuletzt berichtete das US-Unternehmen Moderna von guten Ergebnissen eines angepassten Impfstoffs in einer vorläufigen Studie. Demnach bewirkte das modifizierte Moderna-Vakzin einen stärkeren Anstieg der Antikörper zur Bekämpfung von Omikron, als eine vierte Dosis mit dem ursprünglichen Impfstoff. Man rechne damit, dass man den Impfstoff ab Herbst anbieten könne, hiess es vonseiten des Pharmaunternehmens.
Wann könnte ein angepasster Impfstoff in der Schweiz verfügbar sein?
Auch der Bund geht davon aus, dass ein an Omikron angepasster Impfstoff ab Herbst verfügbar sein wird, teilt BAG-Sprecher Ming mit. Das allerdings unter dem Vorbehalt, dass die adaptierten Impfstoffe zuvor noch eine offizielle Zulassung durch Swissmedic bekommen müssten.
Gemäss der bestehenden Verträge stehen der Schweiz laut Ming «stets die neuste verfügbare Impfstoffvariante der jeweiligen Hersteller zur Verfügung». Sei ein Impfstoff zugelassen und verfügbar, werde nur noch dieser «für die noch offenen Lieferungen verwendet». Rhythmus und Menge der Impfstofflieferungen würden sich dabei sowohl an den Bedürfnissen der Schweiz als auch der Lagerkapazitäten und Produktionsplänen der Hersteller richten.
Ist eine Kampagne für den zweiten Booster im Herbst geplant?
Der Bund überwache die aktuelle Situation in der Schweiz und Europa hinsichtlich der Impfwirksamkeit auch in Bezug auf die Ausbreitung neuer Varianten fortlaufend, heisst es vom BAG. Die Impfstrategie für den Herbst richte sich sowohl an der aktuellen als auch der zu erwartenden epidemiologischen Situation und den wissenschaftlichen Erkenntnissen aus. Noch vor den Sommerferien würden das BAG und die EKIF zum «aktuellsten Informationsstand betreffend Impfempfehlungen für den Herbst und Winter 2022/23 informieren», erklärt Ming.
Eine Auffrischimpfung im Herbst sei ein «wahrscheinliches Szenario», sagte bereits Impf-Chef Christoph Berger Mitte Mai dem SRF. Sie werde dann wahrscheinlich neben chronisch Kranken auch allen Personen über 65 Jahre empfohlen.