blue News trifft Balthasar Glättli «Ich verstehe, dass viele Menschen verzweifeln»

Von Gil Bieler und Jüri Christen (Video)

22.5.2023

Fünf Fragen an Grünen-Parteichef Balthasar Glättli

Fünf Fragen an Grünen-Parteichef Balthasar Glättli

Fleischmenü, Hater, Schlüsselanhänger: Grünen-Parteipräsident Balthasar Glättli beantwortet fünf rasche Fragen.

18.05.2023

Auch wenn die Grünen bei den Wahlen im Herbst Verluste erleiden sollten, beharrt Parteichef Balthasar Glättli auf einem Bundesratssitz. Ein Gespräch über das Klimaschutzgesetz, Pazifismus in Kriegszeiten und Klimakleber.

Von Gil Bieler und Jüri Christen (Video)

Das Café «Sphères» in Zürich ist gut besetzt, als Balthasar Glättli zur Mittagszeit durch die Türe kommt und sich an den Tisch setzt. Der Parteipräsident der Grünen atmet durch, aber nur kurz: Sein Tagesprogramm ist dicht durchgetaktet, für das Interview bleibt genau eine Stunde Zeit. Der Zmittag muss warten, ein Glas Mineralwasser liegt aber drin – und immerhin mit Blöterli.

Herr Glättli, Sie sind Chef der grössten Oppositionspartei im Land. Fühlen Sie sich auch so?

Ja. Aber wir Grünen verwechseln Lautstärke nicht mit Stärke. Dies im Gegensatz zur SVP. Die macht als grösste Partei lieber Lärm, anstatt etwas zu gestalten. Wir dagegen versuchen, aus der Oppositionsrolle etwas zu erreichen, auch wenn das nicht immer ganz einfach ist. Aber Hartnäckigkeit zahlt sich aus! 

Die Umfragen zeigen, dass den Grünen bei den Wahlen im Herbst die grössten Verluste drohen. Ist der Traum vom Bundesratssitz damit schon futsch?

Überhaupt nicht. Wir bleiben die mit Abstand stärkste Nichtregierungspartei. Als solche erheben wir selbstverständlich einen Anspruch. Auch nach den ungünstigsten Prognosen lässt sich eine Formel mit zwei Sitzen für die FDP und null Sitzen für die Grünen nicht rechtfertigen. Wir Grünen wollen Regierungsverantwortung übernehmen, und wir können das. Das haben wir auf kantonaler Ebene und in den Städten längst gezeigt.

Nur werden die anderen Parteien dafür kaum Hand bieten, wenn die Grünen verlieren.

blue News trifft

Im Wahljahr 2023 trifft blue News die Präsident*innen der grossen Parteien. Bereits erschienen ist ein Gespräch mit SVP-Präsident Marco Chiesa, SP-Co-Präsidentin Mattea MeyerMitte-Präsident Gerhard Pfister und GLP-Präsident Jürg Grossen. Falls du Fragen an einen der Präsident*innen hast, dann schreibe sie hier in die Kommentarfunktion. 

Die Frage nach einem grünen Bundesratssitz wird sich stellen. Dass wir nicht im Bundesrat sitzen, schadet auch der Demokratie: Die Zauberformel wurde ja eingeführt, damit ein möglichst grosser Teil der Bevölkerung im Bundesrat vertreten ist. Das verständlichste Argument, mit dem uns 2019 kein Sitz gewährt wurde, war: «Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer.» Doch auch die schlechtesten Prognosen sehen uns im Herbst in der gleichen Liga mit den Bundesratsparteien.

Glättli zum Klimaschutzgesetz

Am 18. Juni kommt das Klimaschutzgesetz zur Abstimmung. Das Nein-Lager – also primär die SVP – macht mit einer Abstimmungszeitung und knalligen Plakaten Druck, das Ja-Lager fährt eine recht nüchterne Plakat-Kampagne. Reicht das?

Laut den bisherigen Umfragen sollte es reichen, wobei es grosse Unterschiede gibt. Eine Tamedia-Umfrage ergab 58 Prozent Ja-Stimmen, eine SRG-Umfrage 72 Prozent. Was ich daran erkenne, ist, dass das Ja-Lager klar im Plus liegt. Aber wir müssen weiterhin mobilisieren gegen die schrille SVP. Alle Befürworter*innen müssen am 18. Juni tatsächlich abstimmen gehen. Das Rennen ist noch nicht gelaufen!

In den Medien gerieten sich zuletzt zwei ETH-Professoren in die Haare, Andreas Züttel und Reto Knutti: Sie sind sich unter anderem uneins, wie gross das Solarpotenzial auf den Dächern ist und ob das Netto-Null-Ziel 2050 realistisch ist. Wie sollen da Laien den Durchblick behalten?

Zur Person

Der 52-Jährige ist seit 2020 Parteipräsident der Grünen. Seit 2011 hält Balthasar Glättli einen Zürcher Sitz im Nationalrat, wo er der Kommission für Wirtschaft und Abgaben angehört. Er ist studierter Germanist und Philosoph und hat eine eigene Firma für Kampagnen- und Medienberatung sowie Webdesign. Glättli ist Vater einer fünfjährigen Tochter.

Man kann eine Energiewende dumm machen, oder man kann sie klug machen. Die Studie von Andreas Züttel, die auch die SVP immer wieder zitiert, geht von der ineffizientesten aller Varianten aus. Einerseits von einer totalen Autarkie, das heisst: die gesamte Energie würde im Inland hergestellt. Dabei haben wir heute eine riesige Abhängigkeit vom Ausland, die fossilen Energieträger und auch Uran stammen zu 100 Prozent aus anderen Ländern. Andererseits geht die Studie davon aus, dass Energie völlig ineffizient eingesetzt wird.

Das müssen Sie erklären.

Im von der SVP genutzten Szenario werden erneuerbare Energien dafür genutzt, um künstliche Treib- und Brennstoffe, also E-Fuels herzustellen. Das führt zu einem enormen Effizienzverlust. Nehmen wir das Beispiel Autos: Wird elektrische Energie 1:1 für den Antrieb genutzt, ist sie viel effizienter als Verbrennungsmotoren. Macht man aus elektrischer Energie aber zuerst E-Fuels, und nutzt diese dann in einem Verbrennungsmotor, dann sinkt die Effizienz auf 15 Prozent. Man braucht also sechseinhalbmal mehr Strom! Daher: Die Studie zeigt kein Szenario auf, auf das die Schweiz setzt oder setzen sollte.

Es bleibt aber dabei: Ein grosser Teil unserer Energie stammt aus dem Ausland. 36,3 Prozent der verbrauchten Energie stammt aus Erdöl, rund 20 Prozent aus den AKW, die nicht ewig laufen werden. Lässt sich das wirklich so rasch ersetzen?

Erstens einmal: Wir müssen das Netto-Null-Ziel 2050 erreichen, dazu haben wir uns mit dem Pariser Klimaabkommen verpflichtet. Realistisch wird die Klimaneutralität 2050 erst, wenn man die Effizienz mitberücksichtigt. Wir haben in der Schweiz eine enorme Stromverschleuderung. Eine Studie des Bundes zeigt: Wird überall die effizienteste, bereits heute verfügbare Technologie eingesetzt, könnten wir bis zu einem Drittel an Strom sparen. Also mehr, als die AKW produzieren.

Energieverbrauch und -produktion der Schweiz nach Energieträger, gemäss Angaben des Bundes.
Energieverbrauch und -produktion der Schweiz nach Energieträger, gemäss Angaben des Bundes.
Bild: Bundesamt für Energie

Es braucht viel mehr Erneuerbare. Im Wallis kämpfen aber ausgerechnet die Grünen mit dem Referendum gegen das Photovoltaik-Grossprojekt «Grengiols Solar». Wie geht das zusammen?

«Grengiols Solar» ist ein Beispiel dafür, dass die Realität die grossen Würfe schrumpft. Nach aktuellsten Plänen der Betreiber soll Grengiols noch fünf Prozent des Stroms im Vergleich zum ersten Wurf liefern. Wir Grüne sind nicht grundsätzlich gegen Solaranlagen im hochalpinen Bereich, dort wird gerade im Winter mehr Solarstrom erzeugt. Grengiols zeigt aber, dass diese Projekte sehr viel schwieriger zu realisieren sind und länger dauern, als wenn man dort baut, wo die nötige Infrastruktur wie Strassen und Stromleitungen schon vorhanden ist.

Wir schlagen daher eine Pflicht für Solaranlagen auf Neubauten und bei Renovationen vor. Zusätzlich braucht es Solarpanels an den Fassaden. So lässt sich auch im Flachland im Winter das Potenzial von Photovoltaik stärken.

Sie wollen diese Solarpflicht auch mit einer Initiative durchboxen. Wie konkret ist das Vorhaben?

Der Ball liegt beim Parlament. Dort wird die Solarpflicht als Teil des sogenannten Mantelerlasses diskutiert. Der Nationalrat hat ihr zugestimmt, die Energiekommission des Ständerats sprach sich leider dagegen aus. Sollte sie am Ende wieder herausfallen, prüfen wir ernsthaft eine Initiative.

Die SVP warnt vor steigenden Energiepreisen und damit Mehrkosten von 6000 Franken pro Kopf und Jahr. Mit welchen Zahlen rechnen Sie?

Die reinen Energiekosten steigen nicht bei einem Ausstieg aus den Fossilen, gemäss dem Verband schweizerischer Elektrizitätswerke sinken sie sogar. Allerdings braucht es Investitionen, eine Studie des Bundesrats kommt auf rund 50 Milliarden Franken an Zusatzinvestitionen bis 2050 für Netto-Null. Aber für die Rettung der Credit Suisse hat der Bundesrat 259 Milliarden Franken übrig, und auch das Armeebudget wird bis 2030 von fünf Milliarden auf fast zehn Milliarden Franken jährlich fast verdoppelt.

Würden wir nur beim Armeebudget ein paar Jahre auf die Bremse treten, hätten wir diese Investitionen berappt und erst noch an Unabhängigkeit gegenüber Schurkenstaaten wie Russland gewonnen.

Glättli über die OECD-Steuerreform

Bei der OECD-Mindeststeuer, über die wir ebenfalls abstimmen, überlassen Sie die Nein-Kampagne der SP, die Grünen haben Stimmfreigabe beschlossen. Haben Sie Angst vor einer Niederlage an der Urne?

Nein. Die Parteileitung hatte die Nein-Parole beantragt. Im Wissen darum, dass das in den Kantonen sehr unterschiedlich diskutiert wird. Die Delegiertenversammlung der Grünen Schweiz hat dann Stimmfreigabe beschlossen. Ich persönlich werde wie im Parlament Nein stimmen. Ein Nein verhindert ja nicht, dass diese Mindeststeuer kommt, sondern ermöglicht vielmehr eine gerechtere Verteilung dieser Mehreinnahmen innerhalb der Schweiz und weltweit. Aber die Grünen Schweiz beschlossen Stimmfreigabe und einige Kantonalparteien haben die Ja-Parole beschlossen, etwa die Grünen Basel-Stadt.

Glättli über die Kriegsmaterial-Weitergabe

Die Kritik aus dem Ausland am Verbot, Schweizer Munition an die Ukraine weiterzugeben, wird immer lauter. Nebst der SVP sperren sich auch die Grünen gegen jede Lockerung. Wie lange kann sich die Schweiz diese starre Haltung noch erlauben?

Wenn alle anderen Parteien sich einig wären, hätten sie längst eine Mehrheit zusammen. Im Parlament haben SVP und Grüne keine Blockademehrheit. Das zeigt: Die Situation ist komplizierter.

Vielen von denen, die jetzt die Munitions- oder Waffenweitergabe an die Ukraine fordern, geht es eigentlich um etwas anderes. Sie wollen einen der grössten Erfolge der Grünen in der letzten Legislatur wieder rückgängig machen, nämlich: Dass es uns gelang, die skandalös löchrigen Waffenexport-Richtlinien endlich zu verschärfen. FDP-Parteichef Thierry Burkart sagt ja ganz offen, worum es ihm wirklich geht: in erster Linie um Lockerungen für die Schweizer Rüstungsindustrie, und erst in zweiter Linie um die Ukraine.

Im Parlament kommt nun Bewegung in die Sache: Im Einzelfall soll der Bundesrat das Weitergabeverbot auf fünf Jahre beschränken können. Ein gangbarer Kompromiss?

Nein, das wäre ja genau eine Schwächung des Waffenexportgesetzes. Ich wette aber: Wenn dieser Vorschlag konkret wird und erneut in den Ständerat gelangt, gibt es keine Mehrheit mehr. Der Präsident der Sicherheitskommission, SVP-Ständerat Werner Salzmann, dämpfte die Erwartungen bereits. Und selbst wenn, würde die Änderung erst 2024 greifen. Ich hoffe, dass die Ukraine den Krieg bis dahin längst gewonnen hat.

Würden alle Länder so handeln wie die Schweiz, wie sollte die Ukraine sich dann verteidigen?

Pazifismus, der am Schluss dazu führt, dass die Putins dieser Welt gewinnen, das ist für mich eine unerträgliche Vorstellung. Darum verstehe ich die deutschen Grünen sehr gut, die Waffenlieferungen an die Ukraine unterstützen. Als deutscher Grüner würde ich das stützen. Aber die Schweiz ist als eines von wenigen Ländern neutral, und daraus ergeben sich Chancen und Verpflichtungen.

Die Neutralität verbietet nicht, dass wir Waffen liefern – doch dann müsste das für alle Kriegsparteien gelten. Und das wäre für mich noch viel unerträglicher, wenn die Schweiz Putin aufrüsten würde. Es ist schon schlimm genug, dass wir als Rohstoff-Handelsplatz Putins Kriegskasse über Jahre alimentierten und sie weiter auffüllen und mit dem Export von Dual-Use-Gütern die Hochrüstung verstärkten. Das muss sofort enden!

Glättli über Klimaproteste

Klimaschutz-Aktivist*innen haben ihren Kurs zuletzt radikalisiert: Sie blockieren vermehrt Strassen und verärgern damit viele Menschen. Ist das kontraproduktiv für die grüne Sache?

Diese Aktionen sollen vor allem auf die Dringlichkeit der Klimakrise hinweisen. Ich persönlich habe das Gefühl, dass das gar nicht mehr nötig ist. Die meisten Menschen wissen, dass das Haus brennt – jetzt geht es darum, den Brand zu löschen.

Ich verstehe aber, dass viele Menschen verzweifeln, denn die Politik ist hier immer noch im Schneckentempo unterwegs. Ob solche Strassenblockaden wirklich dafür sorgen, dass wir schneller vorankommen? Da setze ich ein Fragezeichen. Aber ziviler Ungehorsam gehört zu einer Demokratie, und die Aktivist*innen nehmen mögliche Strafen in Kauf.

Hätte sich ein jugendlicher Balthasar Glättli auch auf die Strasse geklebt?

Das weiss ich nicht. Was ich aber sagen kann, ist: Ich bin Vater einer fünfjährigen Tochter, und es gibt durchaus Momente, in denen es mich tief deprimiert, wie langsam die Politik beim Klimaschutz vorangeht. Gerade wegen Politiker*innen, die behaupten, sie würden die Interessen der Wirtschaft vertreten. Doch Wirtschaft und Gesellschaft sind weiter als die Bürgerlichen im Parlament. Darum braucht es im Herbst eine grüne Klimawahl.

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