Forscher: Fast die Hälfte aller Gletscher wohl verloren
Fast 50 Prozent der Gletscher auf der Erde dürften auch im günstigsten Fall bis Ende des Jahrhunderts wegen der Klimaerwärmung verschwunden sein. Das schreibt ein internationales Team im Fachjournal «Science» mit Blick auf einen Temperaturanstieg von 1,5 Grad Celsius bis zum Jahr 2100 im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter.
06.01.2023
Ihr Tod lässt sich höchstens noch etwas hinauszögern: Bis zum Ende des Jahrhunderts schmilzt weltweit die Hälfte aller Gletscher. Glaziologe Matthias Huss erklärt, was auf eine Schweiz ohne Gletscher zukommt.
Jeder noch so kleine Temperaturanstieg hat signifikante Auswirkungen: Die Hälfte der Gletscher auf der Welt könnte bis zum Ende des Jahrhunderts verschwinden. Ein internationales Forschungsteam, an dem die Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft und die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich beteiligt waren, liefert in einer jetzt veröffentlichten Studie den bisher umfassendsten Blick auf die Zukunft der Gletscher auf der Erde.
Das Fazit: Selbst beim Erreichen der Klimaziele sind viele Gletscher nicht mehr zu retten. blue News hat bei Matthias Huss, Glaziologe an der ETH Zürich und Co-Autor der Studie, nachgefragt, was es für die Schweiz bedeutet, wenn alle Gletscher verschwunden sind.
Zur Person: Matthias Huss
KEYSTONE
Matthias Huss forscht im Fachbereich Glaziologie an der Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie der ETH Zürich. Er ist zudem Mitarbeiter der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL.
Einige Gletscher sind laut Ihrer Studie noch zu retten: Gehören die Schweizer Alpengletscher dazu?
Für die Alpen ist es bereits zu spät. Ein grosser Teil des Verlustes der Gletscher ist nicht mehr abwendbar. Selbst bei einer sehr starken Reduktion der CO2-Emissionen und der Stabilisierung der Klimaerwärmung auf 1,5 Grad wird ein Grossteil der Gletscher ganz verschwinden. Anders sieht es bei den riesigen Gletschern in den Polargebieten aus, die einen grossen Einfluss auf den Anstieg des Meeresspiegels haben. Sie könnte man noch retten, und das sollte unsere Motivation sein.
Welche Gletscher werden in den Schweizer Alpen konkret verschwinden?
Selbst im allerbesten Fall, über 80 Prozent der Anzahl der Gletscher und zwei Dritteln des Eises. Auch mit starkem Klimaschutz können wir also nur noch ein Drittel des Volumens retten. Das ist zwar wenig, aber immerhin noch so viel, dass die grössten Gletscher eine Weile Bestand haben. Wenn die Erderwärmung ohne Klimaschutzmassnahmen auf drei oder gar vier Grad ansteigt, dann werden alle Gletscher verschwinden. Allenfalls wird es bei uns noch ein paar ganz kleine Reste ab 4000 Meter Höhe geben.
Wenn die Gletscher verschwunden sind, was passiert dann in den Bergen? Müssen wir uns auf Geröllwüsten allerorten einstellen?
Wenn das Eis verschwindet, bleibt in der Tat zunächst einmal eine graue, instabile Geröllwüste zurück. Dieser Übergang ist schon ein trauriger Anblick. Das kann man in einigen Regionen der Alpen bereits sehen, oder in den Pyrenäen, wo es einst auch Gletscher gab. Aber: Es ist nicht so, dass die Alpen nicht mehr attraktiv sein werden. Die Natur holt sich das Gelände zurück, vor allem in den tieferen Lagen, wo früher die Gletscherzungen lagen.
Wie lange dauert das?
Einige Jahrzehnte. Zunächst kommen Moose und Gräser, dann erste Fichten und andere Bäume. Das Land wird wieder grün, es wird neue Gletscherseen geben. Aber es ist natürlich ein ganz anderes Bild so ohne Gletscher.
Die Gletscher tragen auch zur Stabilität der Berge bei: Erhöht sich in Zukunft die Gefahr von Steinschlägen und Bergstürzen?
Auch wenn vornehmlich der Permafrost für die Stabilität der Berge relevant ist, tragen natürlich auch die Gletscher dazu bei. Ich würde nicht sagen, dass die Gefahr von Gletscherabbrüchen systematisch zunimmt mit dem Klimawandel. Aber die Gefahren werden an Stellen auftreten, wo man sie bisher nicht erwartet hat. Was das bedeutet, konnte man im vergangenen Sommer schon sehen, als es vermehrt zu Steinschlägen und Eislawinen kam: zum Beispiel an der Marmolata in den Dolomiten. Dort war es früher nie gefährlich, doch aufgrund des starken Gletscherrückgangs in den vergangenen Jahrzehnten hat sich eine neue Situation herausgebildet.
Welche konkreten Auswirkungen wird das Verschwinden der Gletscher in der Schweiz noch haben?
Wichtig zu wissen ist zunächst, dass die Gletscher eine wichtige Funktion für den Wasserkreislauf haben, um ihn stabil zu halten. Es ist nicht so, dass wir kein Wasser mehr haben, wenn die Gletscher weg sind. Das wird häufig falsch verstanden. Die Gletscher sind vielmehr Speicherungselemente, die das Wasser vom Winter in den Sommer bringen oder von feuchten Jahren in trockene. Diesen Effekt haben wir erst 2022 gesehen, als sehr viel Wasser von den Gletschern abgeschmolzen ist, damit zum Beispiel im Rhein und in der Rhône verfügbar war und den Wasserspiegel einigermassen hochgehalten hat. Solange Gletscher da sind, können sie grosse Schwankungen ausgleichen.
Im vergangenen Jahr ist die Po-Ebene ausgetrocknet und war der Rhein einige Monate nicht schiffbar …
Wir sehen natürlich, dass die Gletscher ihre Ausgleichsfunktion bereits verlieren. Das Problem wird häufiger auftreten – was sich unter anderem auf den Warentransport auswirkt, auf die Bewässerung, auf die Kühlung von Atomkraftwerken. Beim Trinkwasser ist es etwas komplexer, weil es häufig über das Grundwasser bezogen wird. Da spielen noch andere Prozesse eine Rolle.
Ohne Gletscherwasser im Sommer werden einige Flüsse austrocknen: Welche werden denn betroffen sein?
Wir sehen bereits jetzt, dass in nicht vergletscherten Einzugsgebieten in tieferen Lagen während trockener Sommer teils gar kein Wasser mehr fliesst: Dort, wo ich aufgewachsen bin, im Zürcher Oberland, gibt es beispielsweise die Töss, ein kleiner Fluss, der nun häufig austrocknet. Dass die grossen Flüsse ganz austrocknen, davon gehe ich allerdings nicht aus. Die Alpen bleiben das Wasserschloss Europas. Auch wenn die Gletscher weg sind, ziehen die Berge den Niederschlag an. Aber: Das Wasser kommt zu anderen Zeiten. In einem zukünftigen Klima, wenn es viel wärmer ist, werden wir weniger Schnee haben und damit weniger Schmelzwasser im Frühjahr oder Sommer. Die Winter werden nasser, die Sommer trockener.
Das tönt nach einem Wechsel von Trocken- und Regenzeiten, wie man sie aus Tropen und Subtropen kennt …
Genau. Einerseits wird es extrem niederschlagsreiche Zeiten geben wie im Sommer 2021. Andererseits extrem trockene. Die Zunahme der Extreme in beide Richtungen sehe ich auch als eines der grössten Probleme des Klimawandels an.
Welchen Einfluss haben die Gletscher denn auf die Produktion von elektrischem Strom, der in der Schweiz zu über 60 Prozent aus Wasserkraft stammt?
Im Hinblick auf diesen Winter hatten wir eigentlich eine günstige Situation für die Stromproduktion, weil die Gletscherschmelze im Sommer 2022 die Stauseen gut gefüllt hat – obwohl die Niederschlagsmenge sehr gering war. Das ist ein weiteres Beispiel dafür, wie die Gletscher regulierend auf den Wasserkreislauf wirken: Sie schmelzen dann, wenn es nötig ist. Aber sie können Probleme eben auch nur abmildern, solange sie da sind. In 20, 30 Jahren wird das anders aussehen.
Ohne Gletscher werden die Stauseen nur nachgefüllt, wenn es regnet: Welche Auswirkungen hat das?
Genau, da müssten die Stauseen ihr Management ändern. Momentan werden sie im Winter geleert, um teuren Winterstrom zu produzieren. Im Sommer werden sie über die Schnee- und Gletscherschmelze wieder aufgefüllt. In anderen Regionen, zum Beispiel in Kalifornien, läuft das andersherum. Dort werden die Stauseen im regenreichen Winter gefüllt, und im Sommer wird das Wasser abgegeben. Momentan ist diese Umkehrung des Managements in der Schweiz noch nicht denkbar. Aber das kann sich bei einem wärmer werdenden Klima vielleicht ändern.
Zum Abschluss noch eine Frage: Lässt sich der Gletscherschwund überhaupt noch stoppen?
Mit Klimaschutzmassnahmen lässt sich, wie ich eingangs erwähnte, ein Teil der Schmelze aufhalten. Andere Möglichkeiten gibt es nicht. Die Gletscher können sich nur über langfristige Änderungen der klimatischen Bedingungen stabilisieren. Sie haben eine lange Reaktionszeit, hinken dem Klimawandel schon deutlich hinterher: Das heisst, sie sind eigentlich zu gross für das derzeitige Klima und schmelzen auch deswegen jetzt sehr schnell. Nur wenn es uns gelingt, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, können wir einen kleinen Teil retten.
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