Glaziologe warnt«Grundsätzlich leiden die Gletscher weiterhin»
Von Andreas Fischer
17.2.2021
Viel Schnee in diesem Winter und weniger Flugverkehr durch die Corona-Pandemie: Für die Gletscher in den Alpen ist trotzdem nicht mit einer Erholung zu rechnen. Ein Experte erläutert die Hintergründe.
Der Klimawandel spielt zurzeit kaum eine Rolle – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung. Andere Themen dominieren. Doch auch in der Corona-Pandemie macht die globale Erwärmung keine Pause.
Eine Auswirkung ist jedes Jahr in den Alpen zu sehen: «Grundsätzlich leiden die Gletscher weiterhin», sagt Dr. Andreas Bauder zu «blue News». Der Glaziologe von der ETH Zürich gehört zum Team des Schweizerischen Gletschermessnetzes (Glamos), das die langfristigen Gletscherveränderungen in den Schweizer Alpen erforscht.
«Die Eismasse nimmt laufend ab, das geht unvermindert weiter», sagt Bauder mit Blick auf die letzte Messperiode 2019/2020. Eine Messperiode geht typischerweise von Herbst bis Herbst, «von Minimum zu Minimum», erklärt der Wissenschaftler. Der Zyklus beginnt mit der Winterphase, in der sich die Schneedecke aufbaut: «Da kommt sozusagen der Nachschub für den Gletscher.»
Im Sommerhalbjahr überwiege dann die Schmelze: Der Winterschnee taut weg und eben auch das Eis darunter. «Der Schnee, der Ende des Sommers übrig bleibt, trägt dann zur Nahrung bei», erklärt Bauder. Zuletzt litten die Gletscher in den Alpen Hunger.
Extreme Sommerschmelze
Zwischen 2000 und 2014 haben die Gletscher der Alpen rund ein Sechstel ihres Gesamtvolumens verloren. Zuletzt wurde mit grossem medialen Echo am Morteratsch-Gletscher in Pontresiona GR eine neuartige Beschneiungsanlage eingeweiht, mit der Glaziologen den Schwund der Gletscher aufhalten wollen. Gletscherexperte Felix Keller, der das Projekt «MortAlive» mitentwickelt hat, weiss: «Nur eine Schneeschicht kann die Gletscher wirklich schützen.»
«Bis auf einige wenige Ausnahmen ist in den letzten Jahren und Jahrzehnten am Ende eines Zyklus immer mehr Schnee und Eis geschmolzen, als zuvor gefallen war», erklärt Andreas Bauder. Und das wird sich, trotz teils überdurchschnittlichem Schneefall, auch in diesem Jahr eher nicht ändern.
«Wirklich Bilanz ziehen können wir erst Ende des Winters», sagt Bauder. Der dauere in den Höhenlagen aus Sicht der Gletscherexperten bis Ende April, Anfang Mai. «Bis dahin fallen die Niederschläge im Hochgebirge in fester Form, also als Schnee, der liegen bleibt und den Gletschern als Nahrung dient», erklärt Bauder.
Zurzeit sind nur Zwischenablesungen möglich, punktuell habe es in diesem Winter überdurchschnittlich viel Schnee gegeben. «Das ist zwar nicht schlecht, aber es sagt noch gar nichts aus», so Bauder. «Bis zum Ende des Winters kann sich das alles noch ändern.» Ausserdem zeige die Erfahrung, dass «wir jetzt Jahr für Jahr sehr schmelzintensive Sommer haben. Selbst nach Wintern mit überdurchschnittlicher Schneemenge war die Sommerschmelze jeweils so extrem, dass die Gletscher in den Alpen Ende Jahr keine positive Bilanz aufwiesen».
Keine kurzfristigen Effekte
Bauder geht davon aus, dass die Gletscher auch in dieser Periode wieder einbüssen. Die Prognosen der Klimawissenschaftler gehen klar in die Richtung, dass die Temperaturen weiter zunehmen. Kurzfristige Effekte durch kalte und schneereiche Winter sind nicht zu erwarten.
Auch dass der weltweite Flugverkehr durch die Corona-Pandemie fast zum Erliegen gekommen ist, spiele keine Rolle. «Bis sich solche Effekte auf das Klimasystem bei den Gletschern auswirken, dauert es eine Weile.» Das bedeutet im Umkehrschluss, dass der Gletscherrückgang der vergangenen Jahre seine Ursachen schon viel früher hatte. Weil die Erderwärmung seit Jahrzehnten zunimmt, ist für die Zukunft nicht mit einer Erholung der Gletscher zu rechnen.
Der Mensch bekämpft nur die Symptome
Auch der Morteratschgletscher werde in diesem Sommer wohl an Länge einbüssen, prognostiziert Bauder. «Der Gletscher hatte über die letzten zwei, drei Jahrzehnte einfach zu wenig Nahrungsnachschub, um die starken Schmelzraten an der Zunge zu kompensieren.»
«Wenn man hohe Schmelzraten hat, aber die Zunahme durch konstanten Schneefall verstärkt, dann kann das durchaus einen positiven Effekt haben», hält Bauder Beschneiungssysteme, wie die gerade von Felix Keller installierte Testanlage, für sinnvoll. «Die Frage bleibt aber, ob genug Schnee produziert und auf einer ausreichend grossen Fläche abgelagert werden kann, um die Schmelze auszugleichen.» Das sei vor allem eine technische Herausforderung.
Dass der Mensch ausgerechnet mit Technik die Auswirkungen der Industrialisierung auf die Natur eindämmen will, ist ein ziemlich absurder Gedanke. Das sieht Bauder ähnlich: «Man packt das Problem nicht an der Wurzel, sondern bekämpft nur die Symptome.»