Schweiz rutscht im Klima-Ranking ab Forscher: «Wir sind sogar doppelt ungenügend»

Von Andreas Fischer

14.11.2022

Auch eine Folge des Klimawandels: Der Sardonagletscher in Vättis SG hat eine Eishöle freigegeben.
Auch eine Folge des Klimawandels: Der Sardonagletscher in Vättis SG hat eine Eishöle freigegeben.
Bild: Keystone/Gian Ehrenzeller

Ein neues UNO-Ranking spricht eine deutliche Sprache: Im Rennen um den weltweit besten Klimaschutz ist die Schweiz deutlich zurückgefallen. Woran das liegt, erklärt Klimaforscher Reto Knutti im Interview.

Von Andreas Fischer

14.11.2022

Auf einem vorbildlichen Weg, die Klimaschutz-Ziele von Paris zu schaffen, ist niemand. Die besten Noten im UNO-Klimaschutz-Index 2023 bekommen skandinavische Staaten, aber auch Marokko, Chile und Indien sind gut unterwegs. Die Schweiz dagegen verliert den Anschluss an die Spitze. Dabei sieht man sich doch eigentlich als ambitionierter Vorreiter.

Was läuft schief? blue News hat Reto Knutti, Klimaforscher der ETH Zürich, gefragt.

Zur Person
«Die vier grössten Umweltprobleme sind: Der Mensch ist dumm, faul, egoistisch und kurzsichtig», sagte der Professor für Klimaphysik an der ETH Zürich Reto Knutti im Interview mit der «SonntagsZeitung». Der Klimawandel-Stopp sei eine gesellschafts-politische Frage. (Archivbild)
Keystone

Reto Knutti ist Professor für Klimaphysik an der ETH Zürich. 

Nachdem die Schweiz schon im letzten Jahr einen Platz eingebüsst hat, rutscht sie im aktuellen UN-Klima-Rating nochmals um sieben Ränge ab: Was ist da los?

Generell gilt: Die Schweiz ist beim Klimaschutz nicht auf Kurs. Die Welt ist nicht auf Kurs. In der Rangliste stehen ein paar Staaten deutlich besser da als die anderen. Die Länder auf den Plätzen zehn bis 25 liegen allerdings so nah beieinander, dass kleine Verschiebungen bei den Zahlen grössere Unterschiede in der Rangliste bewirken, die nicht überinterpretiert werden sollten. Zumal nicht genau ersichtlich ist, was genau gemessen wird.

Kann es nicht sein, dass andere Staaten mittlerweile einfach mehr tun als die Schweiz?

Das könnte man vermuten, wenn man sich die Zahlen ansieht. Aber man muss auch etwas vorsichtig sein, bei der Interpretation. Grossbritannien hat zum Beispiel lange auf Kohlekraftwerke gesetzt, bevor man die Energieeffizienz verbessert hat und auf Gas umgestiegen ist. Nicht aus Klimaschutzgründen, sondern weil es billiger ist. Ein solches Land würde plötzlich wegen dieser Umstellung unheimliche Fortschritte bei der Verringerung des CO2-Ausstosses machen.

Wenn man, wie wir in der Schweiz, aber kaum fossile Energieträger im Strommix hat, sondern vornehmlich Wasser- und Kernkraft, dann können wir solche «tief hängenden Früchte» natürlich nicht ernten und mit der Stilllegung eines Kohlekraftwerkes punkten.

Im Bereich Klimapolitik kletterte die Schweiz in der Rangliste um einige Plätze: Ist das ein gutes Zeichen für die Zukunft?

Wir sagen zwar immer, was wir alles tun wollen, aber vieles wird nicht umgesetzt. Die Schweiz hat im Moment kein CO2-Gesetz, die Energiestrategie wird nicht oder nur ungenügend umgesetzt. Auch bei den erneuerbaren Energien hinken wir hinterher.

Im Sinne einer Absichtserklärung verfolgen wir immer noch das Ziel der Halbierung der CO2-Emissionen bis 2030 und der Netto-Null bis 2050. Daran hält der Bundesrat fest. Das tönt ja ganz gut: Wenn man genauer hinschaut, dann sieht man, dass wir die entsprechenden Gesetze zur Umsetzung gar nicht haben: Die Totalrevision des CO2-Gesetzes wurde 2021 an der Urne abgelehnt, und die vom Bundesrat revidierte Neuauflage für die kommenden Jahre ist aus meiner Sicht ungenügend.

Man hält zwar an der Halbierung bis 2030 fest, will aber weder Verbote noch neue Abgaben einführen. Kommt hinzu, dass ein substantieller Teil der Reduktionen durch Kompensationen im Ausland erreicht werden soll. Das sieht auf den ersten Blick interessant aus, weil man angeblich mit weniger Geld mehr erreichen kann. Aber es gibt viele Aspekte, die man kritisieren kann.

Welche sind das?

Es spricht nichts dagegen, anderen Ländern zu helfen, ihre Emissionen zu reduzieren. Die Frage ist, ob man sich das bei der Inlandsreduktion anrechnen lassen sollte. Ausserdem erreichen viele Projekte nicht einmal die Emissionsreduktionen, die sie ausweisen. Oder Emissionsreduktionen werden mehrfach angerechnet. Oder es sind Projekte, die sowieso umgesetzt worden wären und damit nichts beschleunigen. Die Buchhaltung sieht dann schön aus, aber die grossen Brocken beim Umbau der Infrastruktur im eigenen Land müssen wir ja trotzdem anpacken. Nicht zuletzt ist es unfair, wenn die reichsten Länder sich von ihrer Verpflichtung freikaufen.

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Unter dem Strich macht die Schweiz also nicht genug, um die Pariser Klimaschutzziele zu erreichen?

Die Antwort ist nein. Wir sind sogar doppelt ungenügend. Unsere Ziele sind ungenügend ambitioniert, und die Umsetzung dieser ohnehin schwachen Ziele ist ebenfalls ungenügend, weil es zu wenig konkrete Massnahmen gibt.

Auch bei der Energiewende hapert es übrigens an der Umsetzung: Es ist gut, dass jetzt endlich etwas unternommen werden soll. Aber: Wir haben Jahrzehnte darüber diskutiert, ob wir an einer Lärmschutzwand auf der Autobahn ein Photovoltaik-Modul installieren – passiert ist nichts. Ob nun also die Idee von Solarparks in den Bergen, die ich unterstütze, schnell umgesetzt wird, erscheint mir zumindest fraglich. Es sind viele rechtliche Fragen unklar, und ich sehe natürlich auch schon jede Menge Einsprachen von allen Seiten, die erst noch von Gerichten geklärt werden müssen. Bis zur Umsetzung könnte es ein langer Weg werden.

Das UVEK gesteht ein, dass die Schweiz in Sachen Klimaschutz doch nicht so gut und ambitioniert ist, wie sie sich selbst wahrnimmt: Woher kommt die Diskrepanz?

Da muss man sich nur mal das Ziel von Netto-Null Treibhausgas-Emissionen bis 2050 ansehen. Daran ist eigentlich nichts auszusetzen. Allerdings sind die Wege zum Ziel zu wenig ambitioniert: Die Emissionen bleiben relativ lange ziemlich hoch, und sollen dann plötzlich rapide sinken. Dadurch bleiben die totalen, kumulativen Emissionen über den gesamten Zeitraum zu hoch.

Welche Ziele müsste sich die Schweiz denn konkret stecken? Was müsste schnellstmöglich umgesetzt werden?

Genügende Ziele wären mindestens lineare Absenkpfade bis zur Netto-Null und nicht darauf zu hoffen, dass wir bis 2048 weitermachen können und mit einem magischen Fingerschnippen alle Emissionen auf einmal durch negative Emissionen, das heisst Sequestrierung im Ausland, verschwinden.

Wie steht die Schweiz denn bei den einzelnen Sektoren da?

Die Wahrheit ist: Im Gebäudesektor haben wir einigermassen einen Plan, der mit Instrumenten wie der Lenkungsabgabe auch nicht schlecht funktioniert. Im Bereich Verkehr haben wir im Wesentlichen keinen Plan und hoffen, dass die Elektromobilität von selber überhandnimmt. In der Landwirtschaft gibt es kaum Massnahmen.

Drei Bereiche tauchen gar nicht erst in den Treibhausgas-Inventaren auf: Flugverkehr, Finanzen und Importe. Dabei fliegen die Schweizer sehr viel, es wird sehr viel Geld auf dem Finanzplatz Schweiz verwaltet, mit dem man einen Hebel hätte, die Treibhausgas-Emissionen zu beeinflussen. Und der konsumbasierte Import der Emissionen ist grösser als der Inlandsausstoss.

Zum Schluss Hand aufs Herz: Klappt das noch mit der Halbierung der Emissionen bis 2030 und dem Netto-Null-Ziel bis 2050?

Ich unterscheide zwischen technisch-wirtschaftlicher Machbarkeit und politisch-gesellschaftlicher Mehrheitsfähigkeit. Bei ersterem ist die Antwort: Ja, wir haben die Möglichkeiten, diese Ziele zu erreichen. Aber ich bezweifle im Moment trotzdem, dass es machbar ist, weil in der Gesellschaft noch zu kurzfristig und egoistisch gedacht wird.

Das gilt übrigens auch für das weltweite 1,5-Grad-Ziel: Wir könnten es schaffen. Nur weil wir in der Vergangenheit nicht genug schnell und konsequent daraufhin gearbeitet haben, heisst nicht, dass wir es in Zukunft nicht könnten. Wir müssten aber wollen.