Mehr Felsstürze in den Alpen«Eine deutliche Destabilisierung der Berge ist möglich»
Von Andreas Fischer
13.6.2023
Forscher: Fast die Hälfte aller Gletscher wohl verloren
Fast 50 Prozent der Gletscher auf der Erde dürften auch im günstigsten Fall bis Ende des Jahrhunderts wegen der Klimaerwärmung verschwunden sein. Das schreibt ein internationales Team im Fachjournal «Science» mit Blick auf einen Temperaturanstieg von 1,5 Grad Celsius bis zum Jahr 2100 im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter.
06.01.2023
Werden die Alpen durch die Klimaerwärmung geschleift? Eine Permafrost-Expertin und ein Glaziologe erklären nach dem massiven Bergsturz in Österreich, was auf die Schweizer Alpen in den nächsten Jahren zukommt.
Von Andreas Fischer
13.06.2023, 06:34
13.06.2023, 09:22
Von Andreas Fischer
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Bei einem Bergsturz in Tirol brechen etwa 100 Meter vom Gipfel des Fluchthorn-Massivs weg.
Die Gefahr von Bergstürzen steigt im gesamten Alpenraum.
Die Gründe dafür sind tauender Permafrost und verschwindende Gletscher.
Eine Permafrost-Expertin und ein Glaziologe erklären, was auf die Schweizer Alpen in den nächsten Jahren zukommt.
Mindestens 100'000 Kubikmeter Gestein stürzten herab, ein Gipfel verschwand. Der Bergsturz am Fluchthorn-Massiv in Tirol vom Wochenende wirft die Frage auf, ob wir in Zukunft häufiger mit solchen Ereignissen rechnen müssen. Denn auch in der Schweiz rumort es am Berg, etwa in Brienz.
Für Geologen ist klar: Wenn das Eis schwindet, bröckeln die Alpen. «Das Eis ist der Klebstoff der Berge, und dieser Klebstoff geht jetzt schön langsam verloren», sagte Tirols Chef-Geologe Thomas Figl der Nachrichtenagentur dpa. «Das Eis schmilzt wegen der stattfindenden Klimaerwärmung, und das sorgt eben dafür, dass die Berge bröckeln.»
Wasser kann tiefer in den Fels eindringen
«Dass die Alpen bröckeln, ist ein ganz normaler Prozess», stellt Marcia Phillips, Leiterin Permafrostgruppe am WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF, im Gespräch mit blue News klar. «Erosion hat es in den Alpen schon immer gegeben.»
Natürlich müsse man sich bei solchen Ereignissen wie am Fluchthorn-Massiv fragen, welche Prozesse dabei zusammengespielt haben, damit es zu diesem massiven Bergsturz kommen konnte.
«Wir sehen, dass an vielen Orten das Eis im Permafrost taut. Das bedeutet: Das Eis verschliesst die Klüfte nicht mehr wie ein Stöpsel, sodass Wasser tief in die Felsmassen eindringen und Druck ausüben kann», erklärt Phillips. Das wiederum könne dann zu Hang-Instabilitäten führen.
«Wir beobachten im Schweizerischen Permafrostmessnetz Permos eine deutliche Erwärmung im Permafrost. Die Auftauschichten im Sommer werden dicker, die Temperaturen im Permafrost steigen», so Phillips. So seien zum Beispiel im Sommer 2022 und auch in diesem Winter am Jungfrau-Ostgrat auf etwa 3500 Metern im Permafrost-Bohrloch die höchsten Temperaturen seit Messbeginn registriert worden.
«Permafroststöpsel» gehen zurück
Was man allerdings wissen müsse: Die zentrale Rolle bei Bergstürzen spiele die geologische Struktur des Berges. «Riesige Felsmassen ohne Risse, Verwerfungen oder andere Schwächen werden eher nicht hinabstürzen», sagt Marcia Phillips. «Aber bei zerklüfteten und geschichteten Felsmassen gibt es genügend Punkte, die als Schwachstelle dienen.» Weil der «Permafrost-Stöpsel» zunehmend zurückgehe, verändere sich die Durchlässigkeit des Berges.
Neben Permafrost stabilisieren auch Gletscher die Bergflanken: Dies geschieht «nicht durch das Gefrieren im Innern, sondern durch den Gegendruck des Eises, oder wenn Schnee und Firn steile Bergflanken ganzjährig bedeckt und damit das lose Material darunter schützt», führt Matthias Huss, Glaziologe an der ETH Zürich, auf Nachfrage von blue News einen weiteren Grund für die bröckelnden Berge an.
Dass es in Zukunft vermehrt zu Bergstürzen in den Alpen kommt, sei nicht unwahrscheinlich. Darin sind sich Marcia Phillips und Matthias Huss einig. «Weil das Eis zunehmend verschwindet, könnte es passieren, dass es in einer ersten Phase zu einer deutlicheren Destabilisierung der Berge durch Wassereintritte kommt», sagt die Permafrost-Expertin.
Auch Glaziologe Huss glaubt, «dass in Zukunft immer mehr mit Ereignissen gerechnet werden muss, die durch das Auftauen des Permafrosts und des Abschmelzens der Gletscher angetrieben werden».
«Das Klimaschutzgesetz hilft den Gletschern weltweit»
Die Gletscher stehen zurzeit im Mittelpunkt der Debatte um das Klimaschutzgesetz, das am 18. Juni zur Abstimmung kommt. Die Befürworter werben damit, dass es dem Schutz der Gletscher diene. Die Gegner sagen, der Schweizer Anteil am globalen CO2-Ausstoss sei dafür schlicht zu klein. Für Matthias Huss ist klar, dass das Klimaschutzgesetz «dem Schutz der Gletscher weltweit dient, aber vielmehr noch dem Schutz vor allen anderen negativen Konsequenzen des Klimawandels».
Für den Glaziologen sind «die Gletscher ein Element, das die Veränderungen sehr gut verdeutlicht». Natürlich sei die Schweiz relativ klein: Dies darf aber «keine Entschuldigung dafür sein, nichts zu tun. Sollen wir einfach warten, dass die anderen dieses globale Problem lösen? Die Schweiz muss als reiches und entwickeltes Land vorangehen und kann nur profitieren. Nicht zuletzt emittieren wir pro Kopf im weltweiten Schnitt sehr viel CO2».
Die Berge bröckeln, verschwinden aber nicht
Werden die Alpen durch die Klimaerwärmung in den nächsten Jahrzehnten quasi geschleift? «Nicht alle Berge stürzen einfach zusammen, wenn es wärmer wird», gibt Matthias Huss Entwarnung. «Bis es aussieht wie in Schottland, wird es noch Millionen Jahre dauern», ergänzt Phillips mit einem Lachen. «Dass die Berge rund werden oder flach, das werden wir und auch die nächsten Generationen nicht erleben.»
Die Herausforderung ist jedoch, Bergsturz-Ereignisse rechtzeitig zu erkennen, damit keine Menschen zu Schaden kommen, mahnt Huss. «Das ist schwierig. Man ist dabei einerseits auf besseres Verständnis der Prozesse durch Forschung angewiesen, andererseits aber auch auf Hinweise durch Berggänger, die ungewöhnliche Veränderungen beobachten.»
Bessere Beobachtung dank Smartphones
Die Meldungen von Bergstürzen haben in den vergangenen zehn Jahren zugenommen, erklärt Marcia Phillips. Verlässliche statistische Aussagen liessen sich allerdings noch nicht machen: «Wir haben zwar eine Felssturzdatenbank mit Meldungen seit dem Jahr 1714. Allerdings gibt es auch eine Verzerrung der Beobachtung: Seit etwa 2010 haben viele Menschen Smartphones mit Kameras. Seitdem bekommen wir mehr Beobachtungen geschickt.»
Weil sich die Qualität der Daten nicht vergleichen lässt, «ist es sehr schwierig, eine verlässliche Statistik zu erstellen». Vor allem kleinere Felsstürze in abgelegenen Gegenden, die früher teilweise erst nach Jahren entdeckt wurden, werden nun häufiger dokumentiert.
Einige Orte unter genauer Beobachtung
Solche Beobachtungen helfen dabei, Gefahren zu erkennen und Massnahmen zu treffen, um Menschen zu retten: «Wenn eine Gefahr erkannt ist, kann sie durch moderne, aber sehr aufwändige Technologie – wie heute zum Beispiel in Brienz – genau überwacht werden. Aber das ist niemals flächendeckend möglich», erklärt Matthias Huss.
Wie gefährlich Bergstürze sein können, hat sich 2017 am Piz Cengalo im bündnerischen Bergell gezeigt, als es nach einem Felssturz zu einem Murgang kam, der acht Todesopfer forderte und das Dorf Bondo erreichte. Derzeit stehen einige Orte unter genauer Beobachtung, weiss Matthias Huss. «Allerdings sind Ort und Zeit für solche Ereignisse kaum vorauszusagen, wenn kein detailliertes Mess-Dispositiv eingerichtet ist.»
Als besonders gefährdet gilt zum Beispiel der Spitze Stei oberhalb von Kandersteg, erklärt Marcia Phillips. Dort gebe es im Gipfelbereich zwar immer noch Permafrost, «aber in den vergangenen 20 Jahren haben die Deformationsraten stark zugenommen, da zunehmend viel Wasser in den Berg hineinsickern kann.»