Unglück in den Dolomiten Wie sicher sind die Schweizer Gletscher?

Von Andreas Fischer

4.7.2022

Die Gletscher in der Schweiz sind mancherorts nur noch eine Erinnerung: hier der Morteratschgletscher bei Pontresina im Oberengadin in einer Archivaufnahme. 
Die Gletscher in der Schweiz sind mancherorts nur noch eine Erinnerung: hier der Morteratschgletscher bei Pontresina im Oberengadin in einer Archivaufnahme. 
Keystone

Der Klimawandel macht den Gletschern in den Alpen zu schaffen, wie der tödliche Gletschersturz in Norditalien zeigt. Der ETH-Glaziologe Andreas Bauder erklärt, worauf sich Schweizer Alpinisten jetzt einstellen müssen.

Von Andreas Fischer

Wenig Schnee im Winter, höhere Temperaturen im Sommer: Die Gletscher in den Alpen stehen unter enormem Stress – und sind ihm nicht mehr gewachsen. In Norditalien ist am Sonntag vom Gletscher auf der Marmolata, dem höchsten Berg der Dolomiten, ein gewaltiger Eisbrocken abgebrochen und riss mindestens sieben Bergsteiger in den Tod. Zahlreiche weitere wurden von einer Lawine aus Eis, Schnee und Gesteinsbrocken verletzt.

Nach Einschätzung von Klimaexperten und Gletscherforschern ist das Unglück auch auf die steigenden Temperaturen zurückzuführen. Diese lassen die Gletscher in den Alpen immer weiter schmelzen und bröckeln – auch in der Schweiz.

«Grundsätzlich ist das eine Entwicklung, die bei jedem Gletscher alpenweit passieren kann, der ein ähnliches Setting hat. Aber: Es ist nicht jeder Gletscher stark gefährdet», erklärt Andreas Bauder im Gespräch mit blue News. Der Glaziologe von der ETH Zürich gehört zum Team des Schweizerischen Gletschermessnetzes (Glamos) und beobachtet die Entwicklung der Schweizer Gletscher seit Jahren.

Auch Schweizer Gletscher könnten abbrechen

Laut Bauder könne ein Ereignis wie in den Dolomiten auch in der Schweiz passieren. «Ich glaube, es betrifft vor allem kleinere Eismassen, die von der Höhenausdehnung her begrenzt sind, und nicht die grossen Talgletscher. Die haben unten eher einen Halt, der sie abstützt, wenn sich oben etwas destabilisiert.»

Welche Schweizer Gletscher konkret betroffen sein könnten, kann Bauder nicht sagen. «Vermutlich sind es aber Nord-exponierte Gletscher in 3'000 bis 3'500 Meter Höhe.» Das müsste man sich aber genauer anschauen, um die richtigen Schlüsse ziehen zu können.

Welche Faktoren spielen bei Gletscherabbrüchen wie in den Dolomiten eine Rolle?

  • Andreas Bauder kann über die exakten Gründe noch nichts sagen, dafür fehlen ihm die nötigen Informationen. Der Experte vermutet, «dass Wasser einen grossen Einfluss hat: Es wird im Gletscher gespeichert und baut einen grossen Druck auf, was dann zu einem grossflächigen Versagen des Gletschers führen kann und eine grössere Masse abgleitet oder abbricht.»
  • Dabei gebe es verschiedene Prozesse, die eine Rolle spielen. «Vermutlich war auf diesem Gletscher in den vergangen Jahren wiederholt aller Schnee weggetaut. Dann kann die Kälte im Herbst bei abkühlender Atmosphäre ins Eis eindringen. Wenn die Eismasse nicht mehr dick ist, erreicht die Kälte den Untergrund.»
  • Der Gletscher wird dann an den Berg angefroren: «Das könnte ein Grund sein, dass das Wasser, das sich an der Basis angestaut hat, nicht ablaufen kann und dadurch der Druck aufgebaut wird, der zu Abbrüchen führt.»
  • Die Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) vermutet, dass die aussergewöhnliche Situation in diesem Jahr mit sehr wenig Schnee im Winter und früher, starker Eisschmelze eine Rolle gespielt hat.
  • Trockenheit und Hitze seien laut WSL zwar nicht die einzigen und ausschlaggebenden Faktoren, sondern «unterstützen eine potentiell gefährliche Situation, die vorher schon vorlag und sich wahrscheinlich über längere Zeit ausgebildet hat.» Hohe Temperaturen und damit ein verstärkter Eintrag von Schmelzwasser könnten schlussendlich ein Auslöser gewesen sein.

Auch die Glaziologen der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) können solche Ereignisse nicht ausschliessen. «Allerdings ist es sehr schwierig, Ort und Zeitpunkt vorauszusehen, sofern keine vorherigen Indikationen auf eine mögliche Instabilität bestehen», heisst es in einem Statement.

Gletscherwanderungen sind nicht per se unsicher

Ist es also überhaupt noch sicher, auf oder unterhalb von Schweizer Gletschern zu wandern? «Ein solches Ereignis wie in den Dolomiten ist noch immer ein seltenes Ereignis und hängt von bestimmten Faktoren ab», stellt Bauder klar. «Einen generellen Schluss, dass es auf Gletschern jetzt unsicher ist, kann man aus dem Unglück nicht ziehen.»

Allgemeine zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen könne man nicht treffen, sagt Bauder. «Aber: Wir beschäftigen uns mit einem Natursystem, das laufend Veränderungen unterworfen ist. Es ist daher wichtig, die Situation ständig neu einzuschätzen.»

So sei es meist sogar sicherer, «wenn die Gletscher stark ausgeapert sind, weil man die Gefahren besser sieht: Gletscherspalten etwa. Andererseits ist dann aber vielleicht auch kein Durchkommen mehr, wenn es keine Schneebrücken mehr gibt und die Spalten offen sind».

Auch beim WSL will man keine Panik schüren. Gefahren im Hochgebirge wie Eisabbrüche oder auch Steinschlag seien schon immer unberechenbar gewesen und würden es auch in Zukunft zu einem gewissen Grad bleiben. Selbst mit viel Erfahrung sei es oft «fast unmöglich, mit einer einzelnen Beobachtung abzuschätzen, ob ein Abbruch unmittelbar bevorsteht oder nicht».

Die Gefahrenlage in den Bergen verändert sich

Dass es in naher Zukunft vermehrt Gletscherprobleme geben wird, mag Andreas Bauder nicht bestätigen. «Solche Ereignisse wie in den Dolomiten sind immer noch zu selten, als dass sich ein Trend zu einer Häufung ableiten lässt.»

Was gesagt werden könne, so der Glaziologe: «Weil die Gletscher zurzeit starken Veränderungen unterworfen sind, verändern sich auch die Gefahrenherde. Es können sich neue bilden, aber auch bestehende wegfallen, wenn sich die Ausgangslage verändert.»

Problematisch wird es, wenn es gar keine Gletscher mehr gibt. Unwahrscheinlich ist dieses Szenario nicht, auch wenn man beim WSL hofft, dass «mit konsequentem und globalem Klimaschutz tatsächlich noch ein Teil der Gletscher gerettet werden kann». 

Ohne Gletscher werden die Berge noch unberechenbarer

Aktuell jedenfalls geht es den Gletschern schlecht, stellt Andreas Bauder fest. «Grundsätzlich hat sich nichts geändert im Vergleich zum mittelfristigen Trend der vergangenen Jahre. Die Klimaveränderung wirkt sich jetzt wirklich massiv auf die Gletscher aus. Insbesondere in diesem Jahr mit wenig Schnee im Winter und einer schnellen Ausaperung sind die Gletscher in ihrer Entwicklung ein bis zwei Monate früher dran als normal um diese Jahreszeit.»

«Wenn es gar keine Gletscher mehr gibt», wagt Bauder einen Ausblick, «dann bekommen wir es mit ganz neuen Gefahren zu tun, weil dann neue Prozesse in Gang gesetzt werden.» Schliesslich üben «die Gletscher mit ihrem Gewicht einen Druck auf die Hänge aus. Entfällt dieser, dann trägt das zur Destabilisierung des Untergrunds bei. Kommt hinzu, dass die Oberfläche ohne Eisbedeckung den atmosphärischen Einflüssen ausgesetzt ist und die Erosion einsetzen kann». Die Folgen wären Felsabbrüche, Bergstürze oder Murgänge. «Es ist aber sehr schwierig zu prognostizieren, was in dem Fall wann genau passiert.»