Experte zu 60 km/h auf Autobahnen «Die maximale Kapazität liegt bei 80 bis 85»

Von Andreas Fischer

13.7.2022

Stau vor dem Gotthardportal: Daran wird wird auch ein Tempolimit von 60 km/h nichts ändern, glaubt Experte Kay W. Axhausen von der ETH Zürich.
Stau vor dem Gotthardportal: Daran wird wird auch ein Tempolimit von 60 km/h nichts ändern, glaubt Experte Kay W. Axhausen von der ETH Zürich.
KEYSTONE/URS FLUEELER

Tempolimits von 60 km/h auf der Autobahn sollen das Stauproblem in der Schweiz lösen. Doch ganz so einfach, wie es sich der Bund vorstellt, wird es nicht, erklärt Verkehrsplaner Kay W. Axhausen.

Von Andreas Fischer

Staus nehmen schweizweit kontinuierlich zu. 2021 wurden fast 32'500 Staustunden erfasst – mehr als doppelt so viele wie 2010. Das Bundesamt für Strassen (Astra) will nun gegensteuern – mit einem radikalen Vorschlag. blue News hat bei Kay W. Axhausen, Professor für Verkehrsplanung an der ETH Zürich, nachgefragt, was er davon hält, das Tempo auf Autobahnen teilweise auf 60 km/h zu begrenzen.

Zur Person
zVg/Kay W. Axhausen

Kay W. Axhausen ist Professor für Verkehrsplanung an der ETH Zürich.

Tempo 60 auf den Autobahnen: Ist das ein sinnvoller Vorstoss, der da aus dem Hause von Verkehrsministerin Simonetta Sommaruga kommt?

Es ist eher ein überraschender Vorstoss, weil es bekannt ist, dass die maximale Kapazität einer Autobahn bei einer Geschwindigkeit von 80 bis 85 km/h liegt. Es sei denn, es gibt neue Ergebnisse, die ich noch nicht kenne. Wenn es das Ziel ist, die Kapazität der Autobahn zu senken, kann das mit diesem Vorstoss effektiv erreicht werden.

Das Astra will trotzdem versuchen, mit dem Tempolimit die Stauproblematik zu entschärfen: Immerhin summierten sich die Stauzeiten im letzten Jahr auf fast 32'500 Stunden.

Zunächst einmal: Autobahnen und Stadtstrassen sind zwei unterschiedliche Dinge. Klar: Sie haben miteinander zu tun, weil der Verkehr von der Autobahn auf die Stadtstrassen will und umgekehrt. Aber Tempo 60 auf den Autobahnen hilft nicht, um die Staustunden auf anderen Strassen zu reduzieren. Ich befürchte, dass es vielmehr dazu führt, dass Kapazitäten und Geschwindigkeiten sinken, wodurch wieder neue Verlustzeiten entstehen.

Dass der Verkehr auf Autobahnen bei Tempo 60 mittels Harmonisierungsanlagen länger flüssig gehalten werden kann, ist also Wunschdenken?

Das kann das Astra durchaus untersuchen, aber es ändert nichts daran, dass die Kapazität eben, soweit ich weiss, bei 80 bis 85 km/h liegt, weil diese Geschwindigkeit den Durchsatz maximiert. Wobei es je nach örtlichen Gegebenheiten auch kleinere Abweichungen nach unten und oben geben kann.

Welchen Anteil an den 32'500 Staustunden in der Schweiz haben Autolenker und welchen die Verkehrsplaner?

Der Stau sind immer wir selbst. Wir stehen dort und haben beim Losfahren in der Regel gewusst, dass wir mit vielen anderen Menschen unterwegs sein werden und die Kapazitäten der Strasse dafür nicht ausgelegt sind. Also: Obwohl wir wissen, dass es zu einem Osterstau am Gotthard kommen wird, fahren wir los und stehen dann im Osterstau am Gotthard.

Die Verkehrsplaner wiederum machen Vorschläge für die Verkehrsführung und -infrastruktur, die in der Schweiz aber politisch genehmigt werden müssen. Also sind im Prinzip auch wieder wir selbst für die Verkehrsplanung verantwortlich.

Welche Möglichkeiten sehen Sie, Staus zu verhindern?

Wir könnten neue Strassen bauen, was in der Regel keine grosse Begeisterung auslöst. Wir könnten Strassennutzungsgebühren einführen, um erwartete Staus über den Preis zu signalisieren: Also höhere Preise bei starker Nachfrage nach Nutzung einer Strecke. Siehe Osterstau. Wir könnten auch hoffen, dass uns autonome Fahrzeuge retten werden, was sie sicher eine Weile tun werden. Ansonsten bleibt nur: weniger fahren. Oder zu Zeiten fahren, zu denen andere nicht fahren wollen.

Letzteres lässt sich vielleicht bei Fahrten in die Ferien steuern, aber im Berufsverkehr wird das schwierig.

Es gibt fast immer Alternativen. Viele Menschen können sich heutzutage überlegen, ob sie wirklich ins Büro wollen oder doch lieber im Homeoffice arbeiten. Die Arbeitszeiten sind flexibel: Sie können also später oder früher zur Arbeit fahren. Sie können auch auf den ÖV umsteigen oder mit dem Fahrrad fahren. Natürlich gibt es Situationen, in denen es nur mit dem Auto geht. Dennoch muss man sich immer fragen: Was könnte ich selbst machen, um den Strassenverkehr zu entlasten?

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Also sehen Sie in der Eigenverantwortung eine Möglichkeit, um Staus zu vermeiden?

Dabei gibt es leider immer das Problem des kollektiven Handelns: Jeder Einzelne hat das Gefühl, dass sein eigener kleiner Beitrag dem Gesamtsystem nicht hilft, weil er denkt, dass die anderen nichts machen. Deswegen sehe ich einen Vorteil in Strassengebühren: Sie würden allen die Notwendigkeit signalisieren, das Verhalten zu ändern. Diese Kosten wären für eine ausreichend grosse Anzahl Menschen ein Anreiz, etwas zu ändern.

Würden die Menschen nicht eher auf gebührenfreie Strassen ausweichen?

Das könnten sie machen. Dann fahren sie aber auch länger. Oder sie überlegen sich Alternativen. Die Logik hinter dem Konzept Mobility Pricing: Wir bepreisen die Strassen abhängig von der Auslastung und können damit Verkehrsspitzen glätten. Dieses Konzept liesse sich ausweiten – zum Beispiel auf Parkplätze in Innenstädten oder auch auf volle Bahnen. Die Einahmen könnte man zum Beispiel investieren, um das ÖV-Angebot auszubauen.

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