«Spionage» und «Verrat»?Wie Wissenschaftler in Putins Russland ins Visier geraten
Von Dasha Litvinova, AP
16.7.2024 - 23:55
Seit dem Ukraine-Krieg mehren sich in Russland Fälle von Anklagen wegen Verrats und Spionage. Es trifft auch Forschende, die in internationalen Magazinen veröffentlichen oder auf Tagungen im Ausland auftreten.
16.07.2024, 23:55
17.07.2024, 08:30
dpa
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Fälle von Anklagen wegen Verrats und Spionage steigen in Russland seit Beginn des Angriffs auf die Ukraine an.
Putin hatte zugesichert, dass es keine «weite Auslegung des Begriffs» Verrat geben sollte, doch die Realität sieht anders aus.
Unter anderem im Fokus: Wissenschaftler*innen, die an internationalen Projekten beteiligt sind oder Fehler aufzeigen.
Erst glaubte Maxim Kolker an einen Betrugsversuch am Telefon, eine Art «Enkeltrick». Sein Vater sei verhaftet worden, sagte die Stimme. Kolker hängte ein. Er hatte den krebskranken Vater, den bekannten russischen Physiker Dmitri Kolker, erst am Vortag ins Krankenhaus von Nowosibirsk gebracht. Doch dann rief dieser selbst an und bestätigte die Nachricht.
Wie die Familie später erfuhr, war Kolker senior wegen Landesverrats angeklagt worden – ein Vorwurf, der unter absoluter Geheimhaltung untersucht wurde und für den lange Haftstrafen drohen. Ebenso wie Kolker trafen Verrats- und Spionagevorwürfe zuletzt eine ganze Reihe von Personen, von Kreml-Kritikern und unabhängigen Medienschaffenden bis hin zu Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern.
In der jüngeren Vergangenheit wurden in Russland etwa eine Handvoll Verratsanklagen pro Jahr bekannt. Doch seit dem Krieg gegen die Ukraine ist ihre Zahl nach oben geschnellt, ebenso wie die der Spionagevorwürfe. Vor rund zwei Jahren forderte Präsident Wladimir Putin die Sicherheitsdienste auf, «die Handlungen ausländischer Geheimdienste hart zu unterdrücken und Verräter, Spione und Saboteure umgehend zu identifizieren».
Beschuldigten droht strenge Isolation
Solche Fälle liegen fast immer in den Händen des mächtigen Inlandsgeheimdiensts FSB, konkrete Anschuldigungen und Beweise werden nicht immer offengelegt. Die Beschuldigten werden oft in strenger Isolation im berüchtigten Moskauer Lefortowo-Gefängnis festgehalten. Gerichtsverhandlungen finden hinter geschlossenen Türen statt, lange Haftstrafen sind auf der Tagesordnung.
Die Rechtsberatungsgruppe «Erste Abteilung» um Anwalt Ewgeni Smirnow zählte im vergangenen Jahr mehr als 100 bekannt gewordene Fälle von Landesverratsvorwürfen. Wahrscheinlich gebe es ebenso viele weitere, von denen niemand wisse, sagt Smirnow. Je länger der Krieg dauere, desto mehr «Verräter» wollten die Behörden festnehmen. Schon nach 2014, nach der russischen Annexion der Krim, waren die Fälle angestiegen.
Zwei Jahre zuvor war die Definition von Verrat ausgeweitet worden: Demnach kann nun auch die Bereitstellung von «Unterstützung» für ausländische Länder oder Organisationen darunterfallen. Dem vorausgegangen wiederum waren Massenproteste gegen die Regierung, die der Kreml als vom Westen angezettelt verurteilt hat.
Putin hatte zugesichert, dass es keine «weite Auslegung des Begriffs» geben sollte. Doch die Entwicklungen sprechen eine andere Sprache.
Lange Haftstrafen drohen
Wegen Verrats wurde etwa Iwan Safronow, ein Berater der Raumfahrtbehörde Roskosmos und ehemaliger Militärjournalist, zu 22 Jahren Gefängnis verurteilt. Den Schuldspruch sah sein Umfeld als Vergeltungsmassnahme für Safronows Berichterstattung über militärische Zwischenfälle und dubiose Waffengeschäfte. «Es ist ein sehr gutes warnendes Beispiel dafür, dass Journalisten nicht über den Verteidigungssektor schreiben sollten», erklärte seine Verlobte und Reporterkollegin Xenia Mironowa.
Auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich mit waffenrelevanten Themen wie Aerodynamik oder Hyperschall beschäftigten, gerieten ins Visier des FSB. Aus ihrer Umgebung heisst es, dass sie vielfach wegen Vorlesungen im Ausland oder der Zusammenarbeit mit ausländischen Forschenden angeklagt worden seien.
Internationale Projekte werden zum Verhängnis
Der 77-jährige Anatoli Maslow, der sich mit Hyperschalltechnik befasste, wurde im Mai zu 14 Jahren Gefängnis verurteilt. Ihm sowie zwei weiteren Kollegen wurden möglicherweise Vorträge bei internationalen Seminaren und Konferenzen, Zeitschriftenbeiträge oder internationale wissenschaftliche Projekte zum Fallstrick.
Bei der Durchsuchung der Wohnung seines Vaters habe der FSB Ausschau nach Präsentationen gehalten, die der Physiker bei Vorträgen in China verwendet habe, sagt Maxim Kolker. Die Präsentationen seines Vaters seien für die Nutzung im Ausland genehmigt gewesen und auch im Inland gezeigt worden. «Jeder Student konnte verstehen, dass er darin nichts preisgab», betont Kolker. Dennoch hätten FSB-Leute den krebskranken 54-Jährigen 2022 aus dem Krankenhausbett geholt und ins Moskauer Lefortowo-Gefängnis gebracht.
Der kranke Wissenschaftler rief seine Familie vom Flugzeug aus an, um sich zu verabschieden. Er habe gewusst, dass er das Gefängnis wohl nicht überleben würde, sagt der Sohn. Nur wenige Tage später erhielten die Angehörigen ein Telegramm, in dem sie über den Tod von Dmitri Kolker informiert wurden.