Die mutigste Frau der Welt Gisèle Pelicot: «Das ist kein Mut, sondern Entschlossenheit»

Samuel Walder

15.12.2024

Der Prozess um die Vergewaltigungen von Gisèle Pelicot geht um die Welt. Und doch steht Pelicot da und offenbart alles. Hier in einem Gerichtsgebäude in Frankreich.
Der Prozess um die Vergewaltigungen von Gisèle Pelicot geht um die Welt. Und doch steht Pelicot da und offenbart alles. Hier in einem Gerichtsgebäude in Frankreich.
Bild: IMAGO/Bestimage

Gisèle Pelicot, selbst Opfer schwerster Gewalt, macht ihre Geschichte öffentlich und fordert damit eine gesellschaftliche Neubewertung von Scham und Schuld – ein mutiger Schritt mit globaler Resonanz.

Samuel Walder

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  • Gisèle Pelicot macht als Missbrauchsopfer ihren Fall öffentlich und bricht damit das Tabu der Scham.
  • Scham als kulturell geprägtes Gefühl wurde historisch oft genutzt, um Opfer zu beschämen und Täter zu entlasten, wie Expert*innen sagen.
  • Pelicots Offenheit bringt Bewunderung, aber auch Angriffe und zeigt, dass öffentliche Verfahren nicht für alle Opfer geeignet sind.

Im Gerichtssaal wird sie gefeiert, ausserhalb ist sie zur Ikone geworden: Gisèle Pelicot steht im Zentrum eines Prozesses, der nicht nur eine der düstersten Serien von Sexualverbrechen der jüngeren Geschichte behandelt, sondern auch eine gesellschaftliche Debatte über Scham und Schuld ausgelöst hat.

Pelicot hat sich entschieden, ihre Geschichte nicht nur zu erzählen, sondern öffentlich zu machen – ein mutiger Schritt, der weltweit Solidarität hervorruft, aber auch Grenzen und Risiken aufzeigt. Manche bezeichnen sie als die mutigste Frau im Jahr 2024.

Gisèle Pelicot, heute 72 Jahre alt, wurde von ihrem Ehemann Dominique Pelicot über zehn Jahre hinweg systematisch betäubt, missbraucht und fremden Männern ausgeliefert.

Die Taten wurden von ihrem Ehemann gefilmt, die Videos als Beweismittel vor Gericht verwendet. Nun stehen ihr Mann und 50 weitere Täter in Avignon, Frankreich vor Gericht. Das Urteil soll Ende Dezember verkündet werden.

Gisèle Pelicot: «Die Scham muss die Seite wechseln»

Von Anfang an machte Gisèle Pelicot klar, dass sie den Prozess nicht nur für sich selbst führt. «Die Scham muss die Seite wechseln,» sagte sie.

Sie entschied sich, nicht anonym zu bleiben und das Verfahren öffentlich zu machen, auch wenn dies bedeutete, selbst entwürdigendste Details ihres Missbrauchs publik zu machen. Für sie ein Schritt, um die Kontrolle zurückzuerlangen und das gesellschaftliche Tabu der Scham zu durchbrechen.

Scham, sagt die Theologin Regine Munz gegenüber der «Aargauer Zeitung», ist eines der stärksten Gefühle des Menschen. Sie führt oft zu Isolation, Selbstverletzung oder Aggressionen.

Doch Scham sei auch ein erlerntes und kulturell geprägtes Gefühl. Gesellschaftliche Normen entscheiden, was beschämend ist – und können verändert werden. Genau hier setzt Gisèle Pelicot an: Sie will die Scham von den Opfern auf die Täter übertragen.

Historikerin Elisabeth Joris betont in der «Aargauer Zeitung», wie tief verwurzelt die Beschämung von Frauen in Missbrauchsfällen ist. Seit Jahrhunderten wird Opfern eine Mitschuld zugeschrieben, um Täter zu entlasten. Bis 1992 galt beispielsweise die Vergewaltigung in der Ehe in Frankreich wie auch in der Schweiz nicht einmal als Straftat.

Ein Tabubruch, der Grenzen sprengt

Pelicot geht einen radikalen Weg: Sie spricht nicht nur über den Missbrauch, sondern auch über die Ehe und das eheliche Schlafzimmer – einen Bereich, der traditionell als zu privat für die Öffentlichkeit gilt. Joris lobt Pelicots Offenheit als revolutionär: «Sie durchbricht die Scham über die Verhältnisse im Ehebett.»

Doch der Mut hat seinen Preis. Selbst im Gerichtssaal wird Pelicot angegriffen. So versuchte die Verteidigung, sie wegen ihres Besitzes von Sextoys zu diskreditieren. Ein Anwalt warf ihr sogar Exhibitionismus vor, was sie wütend zurückwies: «Schämen Sie sich, mir solche Dinge zu unterstellen!»

Die Bewunderung für Pelicot birgt auch Risiken. Ihre Stärke und Offenheit könnten zur Erwartungshaltung an andere Opfer werden, warnt Opferhilfeberaterin Agota Lavoyer, in der «Aargauer Zeitung». «Für viele ist ein öffentliches Verfahren schlicht nicht machbar.»

Gleichzeitig bleibt die Unterstützung oft ungleich verteilt: Eine global gefeierte Solidarität, wie sie Pelicot erfährt, würde eine sexuell stigmatisierte Frau, etwa eine Sexarbeiterin, vermutlich nicht erhalten.

Die andere Seite der Scham: Männer und Gewalt

Wenn Scham die Seite wechselt, was bedeutet das für die Täter? Markus Theunert, Soziologe und Leiter von männer.ch, erklärt gegenüber der «Aargauer zeitung», dass Männer sehr wohl Scham empfinden – jedoch oft verdrängen.

Diese verdrängte Scham äussert sich häufig in Gewalt. «Scham hat viel mit Macht zu tun. Wer andere beschämt, kann seine eigene Scham abwehren.»

Theunert fordert ein Umdenken in der Erziehung: «Männlichkeitsanforderungen wie ,Ein Mann weint nicht‘ oder ,Ein Mann löst Probleme alleine‘ sind unerreichbar und treiben Männer in die Gewalt.»

Diese toxischen Erwartungen erzeugen bei Männern eine tiefe Scham, die sie nicht verarbeiten können – mit oft verheerenden Folgen.

Pelicot ist sich sicher: «Es gibt immer wieder Frauen, die zu mir kommen und sagen, sie würden meinen Mut bewundern. Ich antworte ihnen dann, das ist kein Mut, sondern Entschlossenheit. Und der Wille, eine gesellschaftliche Veränderung zu bewirken.»


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