Offensive in Kursk Wird die Blamage für Putin zur Falle für ukrainische Soldaten?

AP/toko

28.12.2024 - 21:31

Ein Schild mit der Aufschrift «Kursk 108 km» steht an der russisch-ukrainischen Grenze.
Ein Schild mit der Aufschrift «Kursk 108 km» steht an der russisch-ukrainischen Grenze.
Evgeniy Maloletka/AP/dpa

Für Putin war es eine Blamage, dass im August erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg feindliche Truppen auf russisches Gebiet vorgestossen sind. Doch inzwischen fragen sich viele ukrainische Soldaten, welchen Sinn das hat.

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  • Russland wurde zwar von der ukrainischen Offensive in Kursk überrumpelt, hat aber seitdem militärisch wieder die Oberhand gewonnen.
  • Die Kämpfe sind so heftig, dass einige ukrainische Kommandeure ihre Toten nicht mehr bergen können. 
  • Einige Befehlshaber an der Front sagen, die Bedingungen seien schwierig, die Moral sei niedrig, und die Soldaten stellten die Entscheidungen des Kommandos in Frage.
  • Angesichts dessen fragen sich ukrainische Soldaten, ob sich die Operation in Kursk überhaupt gelohnt hat.

Fünf Monate nach dem Beginn des ukrainischen Überraschungsangriffs auf die russische Region Kursk wird die Gefahr einer Niederlage Kiews immer grösser. Die Kämpfe sind so heftig, dass einige ukrainische Kommandeure ihre Toten nicht mehr bergen können. Die Soldaten sind demoralisiert. Sie hätten kaum eine Möglichkeit zum Gegenangriff, sagen Frontsoldaten und Kommandeure der Nachrichtenagentur AP.

Seit Russland von dem blitzartigen Vorstoss der Ukrainer überrumpelt wurde, hat es mehr als 50'000 Soldaten in der Region zusammengezogen, darunter auch Tausende seines Verbündeten Nordkorea. Genaue Zahlen sind schwer zu ermitteln, aber Moskaus Gegenangriff hat Tausende Tote und Verwundete gefordert. Die Ukrainer haben mehr als 40 Prozent der 984 Quadratkilometer verloren, die sie im August in der Region Kursk eingenommen hatten.

«In Hornissennest gegriffen»

Einige Ukrainer wollen das Gebiet um jeden Preis halten, andere sehen den Sinn der gesamten Operation infrage gestellt. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte die Hoffnung geäussert, der Vorstoss nach Kursk werde Moskau dazu zwingen, über ein Ende des Krieges zu verhandeln. Doch fünf ukrainische und westliche Quellen in Kiew zeigten sich besorgt, dass die Operation die gesamte 1000 Kilometer lange Frontlinie schwächen und die Ukraine im Osten wertvollen Boden verlieren könne. «Wir haben, wie man so sagt, in ein Hornissennest gegriffen. Wir haben einen weiteren Krisenherd aufgewirbelt», sagte Stepan Luziw, ein Major der 95. Luftlandebrigade.

Armeechef Oleksandr Syrskyj sagte im August, die Ukraine habe die Operation eingeleitet, weil sie davon ausgehe, dass Russland einen neuen Angriff auf den Nordosten der Ukraine plane. Die Operation begann am 5. August mit dem Befehl, die ukrainische Region Sumy für einen neuntägigen Einsatz zu verlassen, der den Feind überwältigen solle.

Inzwischen ist es eine Besetzung. Viele Ukrainer begrüssen sie, weil ihr Land damit ein Druckmittel in die Hand bekommen und den russischen Präsidenten Wladimir Putin in Verlegenheit gebracht hat. Ein Kommandant der Kompanie rief damals seine Männer zusammen und sagte ihnen: «Wir schreiben Geschichte; die ganze Welt wird von uns erfahren, denn so etwas hat es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben.» Seit 1945 hatten keine feindlichen Truppen mehr auf russischem Gebiet gestanden.

Kameraden tragen den Sarg von Petro Velykiy während der Beerdigung des 48-jährigen Schauspielers, der bei einem Gefecht mit russischen Truppen in der Region Kursk getötet wurde.
Kameraden tragen den Sarg von Petro Velykiy während der Beerdigung des 48-jährigen Schauspielers, der bei einem Gefecht mit russischen Truppen in der Region Kursk getötet wurde.
AP Photo/Dan Bashakov/Keystone

Vom eigenen Erfolg überrascht

Insgeheim war sich sich der Kommandeur weniger sicher. «Es kam mir verrückt vor», sagt er heute. «Ich habe nicht verstanden, warum.»

Die von ihrem eigenen Erfolg überraschten Ukrainer erhielten den Befehl, über die ursprüngliche Ziele hinaus bis zur Stadt Korenewo vorzustossen, die 25 Kilometer tief in Russland liegt. Sie war einer der ersten Orte, an denen die russischen Truppen einen Gegenangriff starteten. Anfang November begannen die Russen, rasch Territorium zurückzuerobern, während sich die Ukrainer mit Verlusten abfinden mussten und die Stimmung in der Truppe sank. Der Kommandeur einer Kompanie sagt, die Hälfte seiner Leute sei tot oder verwundet.

Einige Befehlshaber an der Front sagen, die Bedingungen seien schwierig, die Moral sei niedrig, und die Soldaten stellten die Entscheidungen des Kommandos in Frage. Ein anderer Kommandeur berichtet, einige Befehle, die seine Männer erhalten hätten, entsprächen wegen Verzögerungen in der Kommunikation nicht mehr der Realität. Probleme gebe es vor allem dann, wenn die Russen Territorium eroberten. «Sie verstehen nicht, wo unsere Seite ist, wo der Feind ist, was unter unserer Kontrolle ist und was nicht», sagt er. «Sie verstehen die operative Situation nicht, also handeln wir nach eigenem Ermessen.»

Ein Zugführer sagt, er habe seine Vorgesetzten gebeten, die Stellungen seiner Einheit anzupassen, weil seine Männer ihre gegenwärtigen Linie nicht halten könnten. Doch das sei abgelehnt worden. «Diejenigen, die bis zum Ende durchhalten, werden am Ende als vermisst gemeldet», sagt der Kommandeur. Er wisse auch von mindestens 20 ukrainischen Soldaten, deren Leichen in den vergangenen vier Monaten zurückgelassen worden seien, weil die Kämpfe zu intensiv waren, um sie ohne weitere Opfer zu bergen.

Ukrainische Soldaten räumen ein, sie seien auf die aggressive russische Reaktion in Kursk nicht vorbereitet. Sie könnten weder einen Gegenangriff starten, noch sich zurückziehen. «Es gibt keine andere Möglichkeit. Wir werden hier kämpfen, denn wenn wir uns einfach an unsere Grenzen zurückziehen, werden sie nicht aufhören, sondern weiter vorrücken», sagt ein Kommandeur einer Drohneneinheit.

Der ukrainische Generalstab erklärte auf AP-Anfrage, die Kampfeinheiten fügten den Russen täglich Verluste an Personal und Ausrüstung zu und seien mit «allem Notwendigen» ausgestattet, um Kampfaufgaben zu erfüllen. «Die Truppen werden entsprechend der Lageerkenntnis und den operativen Informationen geführt, wobei die operative Situation in den Gebieten berücksichtigt wird, in denen die Aufgaben erfüllt werden», heisst es in der Antwort.

Waffen aus den USA mit grösserer Reichweite haben den russischen Vormarsch verlangsamt. Nordkoreanische Soldaten, die sich im November den Kämpfen angeschlossen haben, sind nach Angaben der ukrainischen Truppen leichte Ziele für Drohnen und Artillerie, weil es ihnen an Kampfdisziplin mangelt und sie sich oft in grossen Gruppen im offenen Gelände bewegen.

Nordkoreaner lernen aus ihren Fehlern

Selenskyj sagte am Montag, bislang seien 3000 nordkoreanische Soldaten getötet oder verwundet worden. Ukrainische Soldaten berichten jedoch, die Nordkoreaner lernten offenbar aus ihren Fehlern und tarnten sich immer besser.

Vergangene Woche gab es ein Gefecht in einem Waldgebiet zwischen den Siedlungen Kremenne und Woronzowo, das ukrainische Truppen besetzt hielten. Inzwischen haben sie einen Teil des Gebiets an die russischen Streitkräfte verloren, und die ukrainischen Truppen befürchten, dass die Russen eine wichtige Logistikroute erreichen werden.

Zugleich verzeichnen die russischen Streitkräfte in der ukrainischen Region Donbass Erfolge, wo sie sich einem wichtigen Nachschubknotenpunkt nähern. Angesichts dessen fragen sich ukrainische Soldaten, ob sich die Operation in Kursk überhaupt gelohnt hat. «Alles, woran die Militärs jetzt denken können, ist, dass der Donbass schlicht verkauft worden ist», sagt der Zugführer. «Zu welchem Preis?»