Kiew zögert mit OffensiveRussland hat der Ukraine nicht viel entgegenzusetzen
Von Andreas Fischer
8.5.2023
Ukraine meldet Tote bei russischer Angriffswelle vor Gedenktag
Am 9. Mai feiert Russland den Sieg der Roten Armee über Nazi-Deutschland. Das Datum gilt in diesem Jahr als besonders symbolträchtig. Die Ukraine meldete eine grossangelegte Angriffswelle und rechnet mit intensiverem Beschuss, vor allem auf Bachmut.
08.05.2023
Auf die Frühjahrsoffensive der Ukraine wird seit langem gewartet. Niklas Masuhr von der ETH Zürich erklärt, warum Kiew den grossen Angriff noch hinauszögert und wie gefährlich russische Gleitbomben sind.
Von Andreas Fischer
08.05.2023, 19:00
Von Andreas Fischer
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Die Ukraine bereitet seit Wochen eine Gegenoffensive vor, zögert aber noch, sie zu starten.
Russland stellt die Verteidiger mit Gleitbomben vor neue, gravierende Probleme.
Militär-Analyst Niklas Masuhr erklärt, warum Kiew die Risiken genau abwägen muss und wo die Angriffe starten könnten.
Den grossen Angriff zögert Kiew hinaus. Noch. Seit Wochen schon wird eine grosse Frühjahrsoffensive der Ukraine erwartet. Die Zeichen, dass sie bald beginnen könnte, häufen sich: Russische Güterzüge werden angegriffen, auf der Krim brennen Treibstofflager, die russische Besatzungsarmee gräbt sich ein.
Dennoch: Die gross angekündigte Offensive der Ukraine lässt auf sich warten. Hat Kiew (noch) kein Vertrauen in die eigene militärische Stärke? Oder schätzen die Ukrainer ihre Erfolgsaussichten als zu gering ein? Auf der anderen Seite scheint sich Russland, vor allem in Bachmut, noch einmal aufzubäumen, gegen das, was in den nächsten Wochen kommen mag.
«Die Nachrichtenlage ist nach wie vor asymmetrisch und selektiv», erklärt Militär-Analyst Niklas Masuhr vom Center for Security Studies der ETH Zürich im Gespräch mit blue News. Dadurch würden aus ukrainischer Sicht und der Sicht ihrer Unterstützer mal Optimismus und mal Pessimismus überwiegen.
Russland setzt verstärkt Gleitbomben ein
Mit der Realität vor Ort in der Ukraine müsse dies allerdings nicht viel zu tun haben, macht Masuhr deutlich. Sie könnten vielmehr auch «mit signifikanter Verzögerung und Verzerrung entstehen». Zudem liefen laut Masuhr «bestimmte Elemente der Offensive unter Umständen bereits». Das sogenannte shaping solle die Konditionen für grossflächige Bodenoffensiven liefern. Dazu würden auch die eingangs erwähnten Schläge auf russische Logistikzentren gehören.
Einen Rückschlag bei den Vorbereitungen der Offensive erlebt die Ukraine derzeit durch den russischen Einsatz sogenannter Gleitbomben. «Der grosse Vorteil liegt für Russland darin, dass diese Bomben von taktischen Jagdflugzeugen ausserhalb der Reichweite der ukrainischen Luftverteidigung abgeworfen werden können und aufgrund des geringen Radarquerschnitts schwerer abzuschiessen sind», erläutert Masuhr.
Wie funktionieren Gleitbomben?
«Gleitbomben sind», erklärt Niklas Masuhr, «ein Munitionstyp mit einem breiten Spektrum». Dabei handelt es sich um niedrig- bis mittelpreisliche und -qualitative Elemente des russischen Arsenals, die günstiger sind als Kalibr-Marschflugkörper, aber eben auch nicht deren Präzision und damit Zuverlässigkeit haben.»
«Zum einen handelt es sich um modifizierte konventionelle ungelenkte Bomben wie die FAB-500, die mit einem Geschirr ausgerüstet werden, dass die Gleitfunktion erlaubt und ein gewisses Mass an Steuerbarkeit ermöglicht.»
«Andere Typen sind explizit für ihre Rolle entwickelt und mit zusätzlichen Navigationssystemen ausgestattet, wodurch sie eine höhere Präzision aufweisen – aber eben auch teurer sind.»
Für die ukrainische Armee sind diese Bomben auf zwei Arten eine Bedrohung, wie Masuhr ausführt. «Erstens sind sie ein für Russland kostengünstiges Mittel, um die ukrainische Luftabwehrmunition abzunutzen und zweitens erhöhen sie den Druck auf die Planung, wo die begrenzt verfügbaren Luftabwehrsysteme prioritär eingesetzt werden sollen.»
Russian forces striking Beryslav, Kherson region with FAB-500-M62 bombs. Recently Ukrainian Air Force Spokesman Yuri Ignat told about the increased amount of bombings with this type. pic.twitter.com/vPE2399VhI
Besonders gefährlich seien Gleitbomben für Truppenkonzentrationen, die bei Bodenoffensiven zwangsläufig entstehen. «Die Folge ist, dass sich die Ukrainer gegebenenfalls gezwungen sehen werden, sich breiter zu verteilen, wenn sie kein Mittel finden, sich gegen Gleitbomben zu verteidigen. Darunter würde dann aber die Effizienz einer Bodenoffensive leiden.»
Allerdings seien, wie in jedem Krieg, technologische Lösungen meist schwankend effektiv, da sich die Gegenseite im Rahmen ihrer Möglichkeiten anpasst: «Auch die russischen Streitkräfte haben zumindest temporäre Erfolge gehabt, wie beispielsweise beim Einsatz von Lancet-Loiteringmunition gegen ukrainische Artilleriegeschütze und dem GPS-Jamming gegen HIMARS-Munition», so Masuhr.
Der Westen setzt Kiew unter Druck
Trotz aktueller Unwägbarkeiten und Rückschlägen kann es sich die Ukraine kaum noch leisten, länger mit der Offensive zu warten. Die «New York Times» berichtet, dass vor allem die Partner im Westen Druck machen. Sie wollten Erfolge sehen, um einzuschätzen, ob sich eine breite und teure Unterstützung Kiews überhaupt noch lohnt.
«Man sollte meines Erachtens nicht vergessen, dass die Ukraine ihr Territorium und ihre Bevölkerung verteidigt und daher die Trennung zwischen politischen und militärischen Prioritäten nicht immer einfach ist», wendet Masuhr ein.
«Beim Auslösen und dann dem Leiten der Offensive wird Kiew natürlich mit Risk-Reward-Dilemmata konfrontiert sein und muss abschätzen, wie sehr man auf risikoreiche Vorstösse oder graduelle Vormärsche setzt, um das Risiko zu streuen.» Dabei würden politische Einschätzungen und Prioritäten eine Rolle spielen.
Ein Vorstoss in Saporischja wäre riskant, aber effektiv
Warum genau Kiew noch immer zögert, wissen Experten schlichtweg nicht. Relativ klar seien hingegen drei mögliche Achsen für die Gegenoffensive: die Nordfront in den Oblasten Donezk und Luhansk, Saporischja und Cherson.
Dabei werde es «wohl kaum auf einen vereinten Panzerkeil hinauslaufen, sondern eher auf die Erhöhung von Offensivbemühungen entlang der Front, mit gewissen Schwerpunkten und unterstützenden Offensivachsen», schätzt Masuhr ein.
Den grössten strategischen Effekt hätte dabei eine Offensive in der Region Saporischja, falls sie erfolgreich sein sollte. «Auch deshalb haben sich hier russische Truppen in der grössten Tiefe eingegraben, womit wir bei den oben erwähnten Risk-Reward-Dilemmata wären.»
Russland muss auf Abnutzung hoffen
Es könne aber auch andere Schwerpunkte als Saporischja mit jeweils ihren eigenen Vorteilen und Risiken geben, so Masuhr. So sei ein Vorstoss über die Städte Kreminna, Swatowe und Starobilsk im Norden von Luhansk nicht ausgeschlossen.
Dass die russische Armee selbst auf breiter Front in die Offensive übergeht, hält Masuhr hingegen für wenig wahrscheinlich. «Um dies zu ändern, wären wohl eine weitere Mobilisierungswelle und das Erschliessen externer Munitions- und Ausrüstungsquellen vonnöten.»
Was Russland in die Hände spielen könnte, sei ein signifikanter Munitionsverbrauch der Ukrainer, insbesondere bei der Luftabwehrmunition: «Dies würde der russischen Luftwaffe mehr Spielraum erlauben: So sie in der Lage ist, ihn auch zu nutzen.»