9. Mai in Russland Tag des Sieges, Tag der Täuschungsmanöver

Von Philipp Dahm

9.5.2022

Bangemachen gilt nicht: Eine Topol-Interkontinentalrakete wird vor Proben für die Tag-des-Sieges-Parade am 5. Mai 2008 von Spürhunden abgesucht.
Bangemachen gilt nicht: Eine Topol-Interkontinentalrakete wird vor Proben für die Tag-des-Sieges-Parade am 5. Mai 2008 von Spürhunden abgesucht.
KEYSTONE

Schon die Sowjets haben Paraden genutzt, um den Westen zu täuschen. Erst kam die «Bomber-Lücke», dann Angst vor neuen Super-Atomraketen. Russland setzt die Tradition fort: Selbst 2021 wurde gemogelt. 

Von Philipp Dahm

Beim ersten Mal ist alles noch ganz anders. Erst am 22. Juni 1945 gibt Josef Stalin den Befehl, den Sieg über Nazi-Deutschland zu feiern. Zwei Tage später ziehen 40'000 Soldaten durch Moskau: Die Parade zum Tag des Sieges 1945 wird die grösste sein, die die Sowjetunion je gesehen hat.

Der Anlass wird in der Sowjetunion in den Folgejahren zunächst nur bei runden Jubiläen gewürdigt: nach 20 Jahren anno 1965, nach 40 Jahren anno 1984 und nach 45 Jahren im Jahr 1990. Die Russische Föderation greift den Feiertag 1995 wieder auf und führt die Parade seither jedes Jahr am 9. Mai durch.

Bei dem Datum ist Russland korrekt: Während im Westen der 8. Mai als Tag der Befreiung gilt, ist die letzte Unterschrift unter das entsprechende Dokument in Berlin am 9. Mai um 0.16 Uhr geleistet worden, wobei es in Moskau bereits 1.16 Uhr war. 

Dass sich Paraden gut eignen, um den Gegner zu täuschen, hat die Sowjetunion 1955 für sich entdeckt. Nachdem 1954 in «Aviation Week» ein Artikel erscheint, in dem behauptet wird, der neue M-4 Bison-Bomber könne eine Atombombe von Osten bis in die USA fliegen, ist das Pentagon nervös. Dann steht im August 1955 der Tag der sowjetischen Luftfahrt an, der seit 1933 begangen wird.

Die Mär von der «Bomber-Lücke»

Am früheren Flugplatz Tuschino in Moskau sind nicht nur Schaulustige zu Gast, sondern auch die westlichen Geheimdienste. Charles Taylor, Attaché der US Air Force in Moskau, sieht zehn Bison-Bomber vorbeiziehen. Was er nicht weiss, ist, dass diese umdrehen, sobald sie ausser Sichtweite sind. 

Ein US-Bericht vom Sowjetischen Tag der Luftfahrt 1955.

Acht Bison kommen hinzu, sodass Taylor nach Washington meldet, es gebe 28 dieser Bomber. Die CIA schlussfolgert, dass die Serienproduktion angelaufen sei und die Sowjets bis 1960 über 800 Exemplare verfügen könnten. Die Mär von der «Bomber-Lücke» lässt die US Air Force viele Ressourcen in dem Bereich investieren.

Weil jedoch Präsident Dwight D. Eisenhower Zweifel hat, ordnet er 1956 Aufklärungsflüge mit dem Spionageflugzeug U-2 an. 1959 gelingt das, was CIA-Chef Allen Dulles das «Eine-Million-Dollar-Foto» nennt: Der Bildbeweis, dass der Westen in Sachen Sowjet-Bomber getäuscht worden ist.

«Es gibt für diese Raketen keine Grenzen»

1965 ist der Kalte Krieg weiterhin voll im Gange, als am 9. Mai die Parade zum Tag des Sieges ansteht. Und wieder setzt die UdSSR darauf, sich grösser zu machen, als sie ist. «Die Parade beträchtlicher militärischer Macht wird abgerundet von der gigantischen Raketen-Verteidigung», lesen die sowjetischen Kommentatoren vorgefertigte Nachrichten vor. «Ihre Wartung ist vollautomatisch. Es gibt für diese Raketen keine Grenzen.»

Dass dies mitnichten der Fall war, verrät der frühere KGB-Vorsitzende Wladimir Semitschastny in seinen Memoiren: «Raketen haben in den 60ern für grosses Interesse gesorgt», wird daraus zitiert. «Jede Erwähnung davon und schon der schiere Anblick haben die Leute daran kleben und den Atem anhalten lassen.» Deshalb habe der Kreml ein, zwei oder drei Mal im Jahr verkündet, es gebe eine neue Raketen-Technologie.

Anschliessend habe man bei der nächsten Parade diese Pseudo-Waffen präsentiert. «Nur ein kleiner Kreis von Leuten war sich bewusst, dass die Zahlen dieser neuen Raketen einfach falsch waren – ein bisschen wie die Potemkin'schen Dörfer – und dass sie überhaupt nicht in der Lage waren, zu fliegen.» Die Traktoren hätten bloss Attrappen über den Roten Platz gezogen.

Sie sei 35 Meter lang und wiege 116 Tonnen, hiess es: Die GR-1 am 9. Mai 1965 in Moskau bei der Parade zum Tag des Sieges.
Sie sei 35 Meter lang und wiege 116 Tonnen, hiess es: Die GR-1 am 9. Mai 1965 in Moskau bei der Parade zum Tag des Sieges.
KEYSTONE

Westen mit Attrappen getäuscht

Während die Sowjetunion in der Nähe der europäischen Nato-Staaten liegt, sind die USA für Moskau nur mit Langstrecken-Waffen zu erreichen. Der Kreml setzt deshalb in den 60ern das Gerücht in die Welt, man verfüge über einen neuen Joker: «Globale Raketen können nicht rechtzeitig entdeckt werden, um Gegenmassnahmen einzuleiten», will Nikita Chruschtschow der Welt damals weismachen.

Die Rede ist von der GR-1 oder Global Rocket 1, die die Nato SS-X-10 Scrag tauft. Den entsprechenden Prototyp stellt der Kreml dann 1965 zur Schau. Westliche Beobachter schliessen aus der Attrappe, dass die Bedrohung real ist. Die Täuschung gelingt nicht zuletzt deshalb, weil die Pseudo-Raketen nach der Parade ordentlich auf Züge verladen werden: Der KGB weiss, dass die Konkurrenz auch dabei zusieht.

Eine weitere vermeintliche Interkontinental-Rakete, die 1965 präsentiert wird.
Eine weitere vermeintliche Interkontinental-Rakete, die 1965 präsentiert wird.
KEYSTONE

Solche Stunts wiederholen sich auf den diversen Paraden im Land, die mal zum Anlass der Oktoberrevolution, mal am 1. Mai oder zu anderen Jubiläen stattfinden. Der Tag des Sieges wird erst 1985 wieder gefeiert, doch die grossen Flugkörper haben von ihrer einstigen Faszination offenbar wenig eingebüsst.

Selbst 2021 schummelt der Kreml noch

«Nachdem der [Rote] Platz von dem Getöse der Maschinen und dem Rumpeln der Panzerketten vibriert hat», beschreibt damals ehrfürchtig die «New York Times», «legt sich plötzlich Stille darüber, als die riesigen Frog-7- und Scud-B-Raketen auf ihren gummibereiften Anhängern vorüberziehen». Und: «Unter der modernen Ausrüstung wurde erstmals die silbrige SS-21-Kurzstreckenrakete mit Nuklearkapazität öffentlich gezeigt.»

Kritiker mögen nun einwenden, dass diese Zeiten längst Vergangenheit sind, doch in Tat und Wahrheit wird die Parade immer noch für Propagandazwecke genutzt. Erst 2021 wird wieder getäuscht, als am Tag des Sieges ein «Livestream» eingespielt wird, der die brandneue Su-57 ins rechte Bild rückt.

Die Website «Aerotime Hub» hat die Bilder analysiert und kommt zu dem Schluss: «Das Material aus dem Livestream am 9. Mai hat keine echten Flugzeuge gezeigt. Der eindrucksvolle Dreh mit den Nahaufnahmen eines Flugzeugs war bloss ein Stück computergeneriertes Material, das mit einigen echten Aufnahmen versehen worden ist.»

Wer sich dieser Geschichte der Parade bewusst ist, der ahnt, wie die Militär-Schau in diesem Jahr ausfallen wird. Zum einen wird sie um ein Drittel kleiner ausfallen, als geplant. Der Krieg in der Ukraine verlangt seinen Tribut: Statt etwa 198 Fahrzeugen wie im letzten Jahr gibt es 2022 nur 131 zu sehen, weiss «Forbes».

Klar ist auch: Der Präsentation der neuen Atom-Rakete im Arsenal des Kreml wird leidlich Platz eingeräumt werden. Es ist in Wladimir Putins Interesse, dem Westen mit der RS-28 Sarmat alias SS-X-30 Satan II, wie die Nato sie nennt, möglichst viel Angst zu machen. Doch wie heisst es so schön? Bangemachen gilt nicht.