Russische Soldaten im Krieg Brigade «Bermuda-Dreieck»: Wer hier landet, verschwindet – oder stirbt nach wenigen Stunden

Von Sven Ziegler

24.7.2024

Ein russischer Soldat in der Ukraine: Nicht alle sind gut ausgerüstet. (Archivbild)
Ein russischer Soldat in der Ukraine: Nicht alle sind gut ausgerüstet. (Archivbild)
Bild: Keystone

Hunderte russische Soldaten müssen jeden Tag neu an die Front. Häufig sind sie schlecht ausgebildet, viele überleben nicht lange. Hier erzählen die Hinterbliebenen – und die Soldaten selbst.

Sven Ziegler

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Russland schickt viele schlecht ausgebildete Männer an die Front.
  • Eine Brigade ist besonders betroffen.
  • Hier erzählen die Hinterbliebenen und die Soldaten selbst.

Zehntausende russische Soldaten haben in der Ukraine in den vergangenen zweieinhalb Jahren ihr Leben gelassen. Der Kreml setzt deshalb auf immer neue Rekrutierungswellen. Immer wieder berichteten Soldaten, dass sie als Kanonenfutter an die Front geschickt werden – ohne Ausbildung und Unterstützung. 

Viele Soldaten gehören der 1. Motorisierten Schützenbrigade an, wie das russische Exil-Portal «Meduza» weiss. Die Einheit habe eine besonders hohe Sterblichkeitsrate. Viele Soldaten würden zudem seit längerer Zeit vermisst. 

Leiche blieb ein Jahr liegen

Die Brigade wurde schon 2014 gegründet, kämpfte vor allem im Donbass. Im Februar 2022 wurde die Brigade dann aufgestockt, vor allem mobilisierte Personen der besetzten Gebiete stiessen dazu. Die Brigade wurde anschliessend rund um Mariupol eingesetzt, die Verluste waren hoch.

Igor Anistratenko (30) zog ebenfalls in den Krieg, wie seine Familie gegenüber «Meduza» erzählt. Er verstarb gemäss der Obduktion bereits an seinem ersten Tag an der Front, drei Tage war der Mann aus Belgorod damals in der Armee.

Seine Leiche blieb über ein Jahr im umkämpften Gebiet liegen. Schliesslich erhielt seine Familie einen Anruf: Man habe «ein Skelett mit Brille» gefunden, es handle sich um Igor. Seine Mutter erzählt, man habe ihren Sohn plötzlich an die Front verschoben. «Seine Augen waren schlecht, das genügte nicht für den Kampf. Aber sie verfrachteten ihn dennoch an die Front – weil es nicht genügend Leute gab.» 

Die meisten russischen Soldaten werden schlecht ausgerüstet. (Archivbild)
Die meisten russischen Soldaten werden schlecht ausgerüstet. (Archivbild)
Bild: Keystone

Die Familien der Soldaten haben mit der Situation oft zu kämpfen, etwa Natalya. Ihr Bruder war erst wenige Wochen zuvor eingezogen worden – während seiner Schicht. Sie selbst habe ihn nicht abhalten können, erzählt Natalya. «Es ging alles sehr schnell, nach drei Tagen war er schon in Donezk.» Ihr Bruder sei verwundet worden.

Mit einer Knieverletzung und einem Granatsplitter im Bein sei er anschliessend wieder an die Front geschickt worden. Er habe sie irgendwann angerufen und gesagt: «Zünde eine Kerze für mich an – das hier ist ein One-Way-Ticket.» Wo er genau war, verriet er nicht, die Verbindung wurde unterbrochen. Seither hat Natalya nichts mehr von ihm gehört.

Angehörige der Brigade, so erzählen es die Zurückgelassenen, tauschen sich in den sozialen Medien aus. Nicht alle Toten können identifiziert werden. Häufig erhalten die Hinterbliebenen Fotos von den Leichen.

Soldaten reklamieren nicht

Die 1. Motorisierte Schützenbrigade trägt mittlerweile den Übernamen «Bermuda-Dreieck». Wer dort landet, verschwindet oder stirbt schnell. Das wissen auch die Kommandanten.

«Die haben uns begrüsst mit den Worten ‹Hier ist neues russisches Frischfleisch›», erzählt einer der Soldaten. «Die Stimmung ist schlecht. Die Kommandanten lassen uns spüren, dass sie seit Jahren im Krieg sind. Und dann sagen sie uns ‹Du willst Geld verdienen? Dann geh mal kämpfen – deine Familie wird sich freuen, wenn sie die Entschädigung für einen gefallenen Soldaten erhält.›»

Die Soldaten hätten Angst, den Mund zu öffnen. Ein Soldat erzählt, dass sich seine Ehefrau beim örtlichen Untersuchungsausschuss in Russland beschwert habe. «Daraufhin kam der Kommandant und hat mir das Maschinengewehr ins Ohr gerammt, sodass es ganz blau wurde.»

Alexey Pavlov überlebte auf dem Schlachtfeld zwei Tage. Für seine Verdienste, so seine Schwester, habe er einen Orden erhalten, «für den Dienst am Vaterland». Seine Schwester kann den Tod nicht fassen. «Er starb in seinem ersten Kampf, verstand nichts vom Krieg. Dass er jetzt tot ist, kann ich einfach nicht glauben.»