Komplette Zerstörung«Moskau nimmt in Kauf, dass Mariupol eine Geisterstadt bleibt»
Von Andreas Fischer
22.4.2022
Viele Tote in Mariupol
Über das Schicksal der rund 100'000 eingeschlossenen Zivilisten in der Hafenstadt Mariupol entscheidet nach den Worten des Bürgermeisters der Stadt allein der russische Präsident Wladimir Putin.
22.04.2022
Die russische Armee hat Mariupol erobert und beinahe komplett zerstört. Was passiert mit einer Stadt, in der kaum ein Stein auf dem anderen geblieben ist? Einschätzungen eines Sicherheitsexperten.
Von Andreas Fischer
22.04.2022, 18:11
25.04.2022, 11:03
Von Andreas Fischer
Die komplette Zerstörung schien Teil der Taktik zu sein, Rücksicht auf Zivilisten gab es nicht: Die russische Armee hat nach eigenen Angaben die südukrainische Stadt Mariupol eingenommen – und nicht viel von ihr stehen gelassen.
«Mariupol wird in eine Liste von Städten in der Welt aufgenommen werden, die durch den Krieg völlig zerstört wurden, wie Guernica, Stalingrad, Grosny, Aleppo», sagte der griechische Konsul Manolis Androulakis bereits Ende März, als er als einer der letzten Diplomaten die Stadt verliess.
Das brutale Vorgehen Moskaus ist nicht neu: Im Tschetschenien-Krieg wurde Grosny 1999 quasi dem Erdboden gleichgemacht, im Syrien-Krieg ereilte die Grossstadt Aleppo zwischen 2012 und 2016 das gleiche Schicksal. Einen Unterschied zu Mariupol gibt es jedoch: Moskau braucht die strategische wichtige Hafenstadt, um einen Landkorridor zwischen den Separatistengebieten im Donbass und der völkerrechtswidrig annektierten Halbinsel Krim zu schaffen.
Was hat Russland mit Mariupol vor?
Trotzdem hat die russische Armee Mariupol vernichtet. 90 Prozent der zivilen Infrastruktur seien zerstört, schätzen die ukrainischen Behörden. Von ehemals 440'000 Einwohnern lebten noch etwa 100'000 unter katastrophalen Bedingungen in der Stadt. Die russische Seite geht von mehr als 250'000 Menschen aus, die noch in Mariupol ausharren.
Wie sinnvoll ist es, eine Stadt zu zerbomben und quasi unbewohnbar zu machen, die man besetzen will? «Ich denke, Russland nimmt in Kauf, dass die Städte, die im Osten der Ukraine unter russischer Kontrolle sind, nicht in einem besonders guten Zustand sind», sagt Niklas Masuhr im Gespräch mit blue News. Für den Sicherheitsforscher von der ETH Zürich ist eher «die Frage, inwieweit Russland die Stadt überhaupt nutzen will».
Dabei habe sich Russland zumindest in den ersten Kriegstagen beim Einsatz der Artillerie sehr zurückgehalten, weil man Szenarien wie in Grosny und Aleppo vermeiden wollte. «Es ist durchaus möglich, dass Russland damit leben kann, dass Mariupol im Endeffekt eine Geisterstadt bleibt», sagt Masuhr.
Stahlwerk als letzte Bastion des Widerstands
Zum Bild dieser Geisterstadt passt das weitläufige Areal des Asovstal-Stahlwerks, dem letzten Bollwerk der ukrainischen Truppen. Das rund elf Quadratkilometer grosse Gelände besteht aus einem Gewirr von Eisenbahnschienen, Lagerhäusern, Kohleöfen, Fabriken, Schornsteinen und Tunneln, das als ideal für einen Guerillakampf gilt.
Dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selensky zufolge harren «rund tausend Zivilisten, Frauen und Kinder» und Hunderte Verletzte in dem Industriekomplex aus. Die dort verschanzten ukrainischen Truppen lehnen eine Kapitulation weiterhin ab. Sie warnen aber, ihre Vorräte würden knapp, und fordern internationale Unterstützung, um eine Evakuierung der Zivilisten zu ermöglichen.
Putin ordnet Belagerung von Stahlwerk in Mariupol an
Der russische Präsident Wladimir Putin hat angeordnet, das Stahlwerk von Mariupol nicht zu stürmen, sondern zu belagern. Die Stadt selbst erklärte er für «erfolgreich befreit».
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Russlands Präsident Wladimir Putin sagte am Donnerstag, eine Erstürmung des Werks sei «unmöglich». «Es ist nicht nötig, in diese Katakomben zu klettern und unter der Erde durch diese Industrieanlagen zu kriechen.» Putin wies seine Armee an, das Werk weiter zu belagern – so engmaschig, dass «keine Fliege mehr heraus kann».
Nun aber attackieren russische Flugzeuge den Komplex mit Bomben, um den Widerstand der ukrainischen Truppen zu brechen. Drohnenaufnahmen, welche die staatliche russische Nachrichtenagentur Ria Nowosti am Sonntag veröffentlichte, zeigten die weitflächige Zerstörung durch die Besatzungstruppen. Zu sehen war ein Schlachtfeld mit komplett zerstörten Gebäuden: Profitieren können die Russen von dem bedeutenden Stahlwerk so schnell nicht mehr.
«Russland hat viel improvisiert»
«Grundsätzlich muss man sich schon fragen, inwieweit die Russen in dieser Hinsicht überhaupt vorausgedacht haben», sagt Niklas Masuhr. «Vieles von dem, was wir dort sehen, ist nicht geplant, sondern improvisiert. Russland ist mit der Annahme in den Krieg eingetreten, als Befreier wahrgenommen zu werden – insbesondere in der Ostukraine. Das ist natürlich nicht passiert.»
So hat etwa der Eigentümer von Metinvest, dem grössten Stahlfabrikanten der Ukraine, bereits angekündigt, unter russischer Führung nicht weiterzuproduzieren. Rinat Achmetov, der einstmals reichste Mann der Ukraine, wolle aber helfen, die Stadt und das Land wieder aufzubauen.
Die Kosten dafür sind astronomisch: Ökonomen rechnen bereits jetzt mit einer Billion US-Dollar. Und: «Es ist schwer vorherzusagen, wann in Mariupol wieder ziviles Leben möglich ist», wie Sicherheitsexperte Masuhr betont. «Die Frage des Wiederaufbaus, die Frage, ob die geflüchtete Bevölkerung zurückkehren kann, humanitäre Fragen – das sind alles politische Fragen, die diese Region über Monate und Jahre begleiten werden.»