Wie weiter nach der Eroberung?Nun brauchen die Menschen in Mariupol dringend Wasser
Von Gabriela Beck und Gil Bieler
21.4.2022
Emotionaler Apell: Ukrainische Truppen bitten um Evakuierung
In einem dramatischen Appell hat der ukrainische Kommandeur der verbliebenen Marineinfanteristen in der schwer umkämpften Hafenstadt Mariupol um eine Evakuierung in einen Drittstaat gebeten. «Der Feind ist uns 10:1 überlegen», sagte Serhij Wolyna.
20.04.2022
Mariupol ist offenbar vollständig unter russischer Kontrolle. Wie ist die Situation der Bevölkerung vor Ort und wie sieht die Zukunft der beinahe komplett zerstörten Stadt aus?
Von Gabriela Beck und Gil Bieler
21.04.2022, 12:50
21.04.2022, 13:06
Gabriela Beck und Gil Bieler
Das russische Militär hat nach Angaben von Verteidigungsminister Sergej Schoigu die umkämpfte südostukrainische Hafenstadt Mariupol unter seine Kontrolle gebracht. Das teilte Schoigu bei einem Treffen mit Kreml-Chef Wladimir Putin mit.
Die Einnahme von Mariupol wäre für die russischen Truppen weit mehr als ein symbolischer Erfolg – die Stadt ist strategisch äusserst wichtig. Da Mariupol im Südosten der Ukraine liegt, würde deren Einnahme den Russen erlauben, die bereits 2014 annektierte Krim-Halbinsel über den Landweg mit den pro-russischen Separatistengebieten im Donbass zu verbinden. Ausserdem könnte Russland den Zugang der ukrainischen Regierung zum Asowschen Meer abschneiden.
Welche strategische Bedeutung der Hafenstadt zukommt, zeigt sich allein schon daran, wie viele Truppen Russland für deren Einnahme einsetzt: Laut Beobachtungen des US-Verteidigungsministeriums stehen 76 russische Bataillone in der Ukraine im Einsatz, wovon sich zwölf allein auf den Kampf um Mariupol konzentrieren.
Wird der letzte ukrainische Widerstand gebrochen, werden auch rund 10'000 Mann des russischen Militärs «frei» – sie könnten an andere Fronten verlegt werden, wie die «BBC» berichtet.
Die Wasserversorgung ist das drängendste Problem
Es stellt sich die Frage, was dann mit der grösstenteils zerstörten Stadt und der verbliebenen Zivilbevölkerung passiert. Nach Einschätzung der Ukraine-Korrespondentin des «SRF», Luzia Tschirky, besteht das drängendste Problem in der Wiederherstellung der Wasserversorgung.
«Man kann die Wasserversorgung und damit Mariupol nicht getrennt vom Donbass wiederaufbauen.»
Luzia Tschirky
Osteuropa-Korrespondentin des SRF
«Die Menschen vor Ort konnten sich seit zwei Monaten nicht waschen oder duschen oder ihr Geschirr abwaschen. Es ist davon auszugehen, dass Menschen in der Stadt inzwischen verdurstet oder an den Folgen von verschmutztem Wasser gestorben sind», stellt sie die Lage drastisch dar. Die Wasserleitungen seien durch die Kämpfe zerstört. Das Problem: Auch der Wasserkanal, der das Wasser aus dem nördlichen Teil des Donbass bis zur Stadt am Ufer des Asowschen Meer leitet, ist durch den Krieg beschädigt worden.
«Man kann die Wasserversorgung und damit Mariupol nicht getrennt vom Donbass wiederaufbauen», konstatiert Tschirky.
Zwar hätten inmitten heftiger Kämpfe vier Busse mit Zivilisten am Donnerstag die seit knapp zwei Monaten belagerte Stadt verlassen können, teilte die stellvertretende ukrainische Ministerpräsidentin Iryna Wereschtschuk mit. Rund 100'000 Bewohner sitzen aber immer noch in Mariupol fest.
Humanitäre Hilfe nicht für alle erreichbar
Humanitäre Hilfsstationen gibt es nur in Teilen der Stadt. «Für ältere Personen ist es oft nicht möglich, mehrere Kilometer zu Fuss dorthin zurückzulegen und nicht jeder hat ein Auto, geschweige denn ein fahrtüchtiges», sagt Tschirky. Darüber hinaus solle das Gelände zum Teil schlimmer vermint sein als in den lange Zeit umkämpften Vororten von Kiew.
Selenskyj: Situation im Südosten der Ukraine «extrem hart»
Nach Angaben ihres Chef-Unterhändlers Michailo Podoljak via Twitter ist die Ukraine zu ausserordentlichen Gesprächen ohne Vorbedingungen mit Russland in Mariupol bereit.
21.04.2022
Auf ausgiebigen Niederschlag dürfe die Bevölkerung ihre Hoffnungen auch nicht setzen, denn Mariupol liege im trockenen Steppengebiet des Donbass. «Nicht umsonst schickt die Schweiz seit dem Jahr 2014 regelmässig humanitäre Hilfe dorthin, um das Trinkwasser zu reinigen», erklärt die Ukraine-Expertin.
Eine weitere akute Gefahr für die Zivilbevölkerung Mariupols sieht Tschirky in der Ausbreitung von Krankheiten. «Viele Leichen liegen seit Wochen auf den Strassen und bei steigenden Temperaturen beschleunigt sich der Verwesungsprozess», warnt sie. «Es ist ein Kampf gegen die Zeit.»
Auf eine langfristige Perspektive möchte sich Tschirky nicht festlegen. Die weitere Zukunft der Stadt hänge nicht zuletzt davon ab, ob ein Waffenstillstand ausgehandelt werden könne und wer die Stadt in Zukunft regiere. Dies könne sowohl der Kreml direkt sein oder die von Russland 2014 eingesetzte Marionettenregierung in Donezk.