Wann kommt Putins Offensive?Der Westen rüstet Kiew für die grosse Schlacht
Von Philipp Dahm
22.4.2022
Ukraine: Experten entschärfen zehntausende Minen
Die russischen Truppen sind aus der Region um die ukrainische Hauptstadt Kiew abgezogen – dafür haben sie Blindgänger und Minen zurückgelassen. Nun suchen ukrainische Entschärfungsteams den Boden ab, um die gefährliche Munition zu entfernen.
22.04.2022
In den Krieg in der Ukraine kommt Bewegung – oder auch nicht: Experten rätseln, ob und wann die gross angekündigte russische Offensive droht, während der Westen die Ukraine jetzt mit Waffen versorgt, die wehtun.
Von Philipp Dahm
22.04.2022, 15:15
22.04.2022, 18:09
Philipp Dahm
Erst wird damit gerechnet, dass der Krieg nur Tage dauern wird. Dann sorgt ein kilometerlanger Konvoi vor Kiew für Aufregung, bis sich die Truppen schliesslich von der Hauptstadt und aus der Nordukraine zurückziehen. Nun wartet alles auf eine Grossoffensive im Osten des Landes, doch der Durchbruch im Donbass lässt auf sich warten.
Die Gründe für die russische Misere sind vielfältig: Es fehlt an gut ausgebildetem Personal, die Logistik und die Koordination offenbaren eklatante Schwächen und auch eine übergeordnete Strategie ist derzeit nicht zu erkennen. «Die russische Armee im Donbass handelt schlechter als erwartet», freut sich daher der ukrainische Militärexperte Oleg Zhdanov im Interview im nationalen Radio.
If anyone asks you how Russia's War in Ukraine is going, well, this comparison of the situation a month ago and today is pretty telling. pic.twitter.com/2BFBz8L7xQ
«Ist das russische Militär bloss ein Papiertiger?», fragt das Magazin «New Yorker» ob der festgefahrenen Lage. Experte Joel Rayburn erklärt die Probleme des Kreml mit «Uneinheitlichkeit im Kommando, logistischen Schwächen, schlechter Ausbildung, mieser Motivation, schlecht geführten Truppen, sehr schlechter Qualität des Offizierskorps und der sehr schlechten Qualität der Auslegung der Kampagne und Fähigkeit zur Planung».
Ein weiteres Hindernis sei die mangelhafte Koordination zwischen den Truppengattungen. Bei kleineren Einsätzen wie 2008 in Georgien habe es ähnlich ausgehen, doch erst in der Ukraine würden die Schwächen nun deutlich. Der Feind hingegen legt ungeahnte Stärke an den Tag: Der bestätigte Abschuss einer Su-35S schmerzt nicht nur, weil der Jet zwischen 50 und 85 Millionen Dollar kosten soll, sondern auch, weil der Westen offenbar Zugriff auf neueste russische Technik bekommt.
Und Kiew erhält von den USA und ihren Verbündeten weiteres Material, das die neueste russische Technik ausschalten soll. Einige der zugesagten Lieferungen werden Russlands Militär vor grosse Herausforderungen stellen. Hier die aktualisierte Übersicht.
USA
Das zweite 800-Millionen-Dollar-Paket, das Washington für Kiew schnürt, hatte sich abgezeichnet. Und was die USA nachlegen, ist substanziell: 72 155-Millimeter-Haubitzen nebst Zugfahrzeugen und 144'000 Schuss Munition sollen geliefert werden. Hinzu kommen «Feld-Ausrüstung» und Ersatzteile.
Das Spannendste sind aber die mehr als 121 taktischen Drohnen, die dem ukrainischen Militär helfen sollen. Die kalifornische Firma AEVEX Aerospace hat die Phoenix Ghost in Zusammenarbeit mit der US Air Force eigens für den Krieg in der Ukraine entwickelt, hiess es zuerst. Dann aber macht Pentagon-Sprecher John Kirby deutlich, dass sie schon vor dem Kriegsbeginn am 24. Februar entworfen worden ist.
«Sie wurde für eine Reihe von Anforderungen entwickelt, die dem sehr nahe kommen, was die Ukraine jetzt im Donbass braucht», so Kirby. Es handelt sich wie bei der Switchblade um eine Kamikaze-Drohne, die nur ein Mal benutzt werden kann. Phoenix Ghost kann über einem Ziel oder einem Gebiet «herumlungern», bis sie zum finalen Einsatz kommt.
Phoenix Ghost soll analog zur Switchblade-Drohne funktionieren, die dieses Video vorstellt.
Grossbritannien
London hat Kiew mit einer Waffe ausgestattet, die den Schutz der Küsten stark erhöhen wird: Nach ukrainischen Angaben sind landgestützte Anti-Schiffsraketen vom Typ Harpoon in Odessa angekommen. Sie haben eine Reichweite von 200 Kilometern und eine Trefferquote von angeblich 95 Prozent.
Niederlande
Die schwerste Waffe, die der Westen der Ukraine bisher versprochen hat, kommt aus den Niederlanden. Sie ist zwölf Meter lang und wiegt satte 61,5 Tonnen: Die Rede ist von der Panzerhaubitze 2000 (Pzh 2000). Die deutschen Firmen Rheinmetall und Krauss-Maffei Wegmann haben mit der hochmodernen Artillerie «den goldbeschlagenen Porsche unter den Panzerhaubitzen» gebaut, schreibt «Forbes» ehrfürchtig.
Die Niederlande sollen demnach zwischen 15 und 21 Exemplare im Arsenal haben, die nicht mehr gebraucht werden. Deutschland, das einem Export zustimmen muss, soll nichts gegen die Lieferung haben.
Die Pzh 2000 hat gegenüber den oben genannten US-Geschützen auch den Vorteil, sehr viel mobiler zu sein: Sie kann sich dem Gegenfeuer feindlicher Artillerie schneller entziehen.
Slowenien
Nach Informationen der Nachrichtenagentur DPA soll der Nato-Partner Slowenien eine grössere Stückzahl seiner alten Kampfpanzer an die Ukraine abgeben und aus Deutschland dafür den Schützenpanzer Marder sowie den Radpanzer Fuchs erhalten.
Slowenien hat unter der Bezeichnung M-84 noch eine jugoslawische Variante des auch von der Ukraine genutzten Kampfpanzers T-72 in den Beständen. Die Idee hinter einem Ringtausch: Mit den in die Jahre gekommenen Waffen können die ukrainischen Streitkräfte ohne spezielle Ausbildung umgehen. Sie können also schneller eingesetzt werden.
Slowenische Medien wiederum berichten, dass die Regierung mit dem Angebot nicht zufrieden sei und statt der alten Marder und Fuchs lieber moderneres Gerät haben möchte. Auf der Wunschliste stehen demnach Leopard-2-Panzer, Schützenpanzer vom Typ Puma oder Radpanzer vom Typ Boxer, die als mit die besten ihrer Klasse gelten.
Litauen
Litauen hat schwere Mörser als Militärhilfe an Kiew übergeben, wie der litauische Verteidigungsminister Arvydas Anusauskas am Donnerstag der Agentur BNS verraten hat. Nähere Angaben dazu machte er nicht. Weiter habe die Ukraine aus den Beständen der Armee des EU- und Nato-Mitgliedstaats Stinger-Flugabwehrraketen, Panzerabwehr- und Flugabwehrwaffen, Munition, Granaten, Maschinengewehre und -pistolen sowie weitere Ausrüstung erhalten.
«Es ist schwierig, alles aufzulisten. Vor einem Monat habe ich 35 Artikel verschiedener Art gezählt», sagte Anusauskas. Der baltische Staat hat nach eigenen Angaben seit Kriegsbeginn vor acht Wochen der Ukraine auch humanitäre und medizinische Hilfe zukommen lassen. Die Regierung in Vilnius hat wiederholt dazu aufgerufen, Kiew mit einer Vielzahl von Waffen zu beliefern.
Slowakei
Die Slowakei hat bereits die Lieferungen des Artillerie-Systems Zuzana, von Flugabwehr vom Typ S-300 und tragbaren Flugabwehrraketen bekannt gemacht. Und obwohl die Mig-29 nicht auf der Waffen-Wunschliste von Wolodymyr Selenskyj steht, steht eine Schenkung dieses Flugzeugtyps der Slowaken weiterhin im Raum.
Auf einer Liste mit 210 Angeboten im Wert von umgerechnet 317 Millionen Franken von Ende März steht nur ein Angebot, das in die Kategorie «schwere Waffen» eingeordnet werden könnte: 12 Mörser, Kaliber 120 Millimeter. «Die Möglichkeiten der Bundeswehr, aus ihrem Arsenal weitere Waffen zu liefern, sind weitgehend erschöpft», sagte der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz dazu dem «Spiegel».
«Was noch verfügbar gemacht werden kann, liefern wir aber auf jeden Fall noch», so der Regierungschef weiter. Scholz nennt in dem Zusammenhang Panzerabwehrwaffen, Panzerrichtminen und Artilleriemunition. Kurzfristig seien Waffen aus ehemaligen sowjetischen Beständen am sinnvollsten, mit denen die Ukrainer gut vertraut seien. Mittelfristig werde Deutschland der Ukraine dabei helfen, ihre Verteidigungsfähigkeit auszubauen, «auch mit westlichen Waffen».
Auch Frankreich liefert der Ukraine schwere Waffen, darunter Artilleriegeschütze. Bisher gab sich Präsident Emmanuel Macron dazu bedeckt, doch in einem Zeitungsinterview am Freitag präzisierte er nun, dass neben Panzerabwehrraketen des Typs Milan auch die Haubitze Caesar in die Ukraine geliefert werde. Diese Haubitzen mit einem Kaliber von 155 Millimeter können Ziele bis auf eine Entfernung von 40 Kilometern präzise treffen. Paris wolle aber nicht selber zur Kriegspartei werden, so Macron.