Lage in Nordsyrien verschlechtert sich rapide Merkel droht, Trump auch – und die Türkei schiesst einfach weiter

DPA/SDA/AFP/tafi

13.10.2019

30 Kilometer tief sind türkische Truppen bereits in Nordsyrien vorgedrungen, Zehntausende werden vertrieben, Hunderte IS-Unterstützer entkommen aus Lagern. Dass Europa und die USA nun mit Sanktionen drohen, lasst Erdogan derweil völlig kalt.

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hat den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zum Stopp der Militäroffensive im Nordosten Syriens aufgefordert. Die Kanzlerin habe sich am Sonntag in einem Telefonat mit Erdogan für eine «umgehende Beendigung der Militäroperation» ausgesprochen, teilte eine Regierungssprecherin mit. Sie drohe zur Vertreibung grösserer Teile der lokalen Bevölkerung, zur Destabilisierung der Region und zum Wiedererstarken der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) zu führen.

Im umkämpften Nordosten Syriens sind Hunderte Unterstützer der Terrormiliz Islamischer Staat aus einem Lager ausgebrochen. 950 IS-Unterstützer seien am Sonntag entkommen, nachdem sie Wärter angegriffen und Tore gestürmt hätten, berichteten syrisch-kurdische Behörden. Türkische Kampfflugzeuge hätten Dörfer in der Nähe des Lagers angegriffen und Lagerbewohner seien geflohen, als Kämpfe zwischen von der Türkei unterstützten syrischen Kämpfern und kurdischen Kämpfern ausgebrochen seien, berichtete die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte mit Sitz in Grossbritannien.

In dem Lager sind annähernd 12'000 Menschen untergebracht, darunter nahezu 1000 ausländische Frauen mit Verbindungen zum IS und deren Kinder. Die syrischen Kurden standen im Kampf gegen die Terrormiliz an der Seite der USA. Die Haftlager könnten sie möglicherweise nicht länger kontrollieren, warnten die Kurden nach dem Einmarsch der türkischen Truppen nach Nordostsyrien.

Nach einer Explosion brennen mehrere Autos in einer Strasse in Qamischli im syrisch-türkischen Grenzgebiet
Nach einer Explosion brennen mehrere Autos in einer Strasse in Qamischli im syrisch-türkischen Grenzgebiet
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Als Reaktion auf den türkischen Einmarsch in Nordsyrien hat Deutschland die Rüstungsexporte an den Nato-Partner teilweise gestoppt. Frankreich schränkte ebenfalls seine Rüstungsexporte in die Türkei ein. Schweden, die Niederlande, Finnland und Norwegen hatten dies schon zuvor getan.

Auch US-Präsident Trump behält sich weiterhin Sanktionen vor. «Ich habe der Türkei klargemacht, dass wir sehr schnelle, starke und harte Wirtschaftssanktionen verhängen, wenn sie ihre Verpflichtungen nicht einhalten», sagte er vor Anhängern in Washington. Zu diesen Verpflichtungen gehörten der «Schutz religiöser Minderheiten und auch die Überwachung von IS-Häftlingen, die wir gefangen haben». Den kurdischen Kämpfern in Nordsyrien riet Trump dazu, sich aus dem umkämpften Grenzgebiet zur Türkei zurückzuziehen.

Sanktionen, na und?

Erdogan zeigte sich davon unbeeindruckt. Wer glaube, die Türkei werde wegen Wirtschaftssanktionen oder Waffenembargos von ihrem Weg abweichen, irre sich, sagte Erdogan am Sonntag. Die Türkei sei ein Nato-Partner und die Kurdemiliz YPG, gegen die die Offensive läuft, eine «Terrororganisation». Auch der türkische Aussenminister Mevlüt Cavusoglu reagierte gelassen: «Es stärkt uns nur», sagte er der Deutschen Welle. Er drohte erneut damit, Millionen syrische Flüchtlinge aus der Türkei über die Grenze nach Europa zu lassen: «Natürlich liegt diese Option auf dem Tisch.»



Derweil rückt das türkische Militär in Nordsyrien schrittweise vor. Die Kurdenmilizen schlagen zurück. Vor allem zwei Grenzstädte sind heftig umkämpft. Aktivisten melden Dutzende tote Zivilisten.

Die türkische Armee und verbündete syrische Rebellen liefern sich fünf Tage nach Beginn ihres Angriffs in Nordsyrien erbitterte Gefechte mit der Kurdenmiliz YPG. Im Fokus der Kämpfe standen am Sonntag die Grenzstädte Ras al-Ain und Tall Abjad, die bislang zum Herrschaftsgebiet der von der der YPG angeführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) gehören.

Heftige Kämpfe in zwei Städten

Ras al-Ain liegt direkt an der türkischen Grenze entlang einer wichtigen Versorgungsroute zwischen Tall Abjad im Westen und der Stadt Kamischli im Osten. Die SDF hätten die meisten Stadtteile von Ras al-Ain nach einem Gegenangriff zurückerobert, teilte die syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte mit. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sagte dagegen am Sonntag, das Zentrum der Stadt sei unter türkischer Kontrolle. Der TV-Sender CNN Türk berichtete, türkische Truppen suchten in Ras al-Ain nach Verstecken kurdischer Kämpfer.

In Tall Abjad lieferten sich die kurdischen Milizen schwere Gefechte mit pro-türkischen Rebellen, wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu berichtete. Die Rebellen hätten Teile des Zentrums eingenommen. Zuvor hatte das türkische Militär die Stadt mit Artillerie beschossen. Rauchwolken stiegen aus Tall Abjad auf, wie auf Bildern bei CNN Türk zu sehen war.

USA ziehen sich noch weiter zurück

US-Präsident Donald Trump ordnete den Rückzug weiterer Soldaten aus dem Konfliktgebiet an. Es bestehe die Gefahr, dass die USA zwischen zwei sich gegenüberstehende Armeen gerieten, sagte Verteidigungsminister Mark Esper dem TV-Sender CBS. Das sei eine «sehr unhaltbare» Lage. Washington wolle sicherstellen, dass keine amerikanischen Soldaten verletzt oder getötet würden. Es würden weniger als 1000 US-Soldaten abgezogen, sagte Esper Fox News. Einen Zeitplan dafür gebe es nicht. 



Aus dem unmittelbaren Gebiet der türkischen Offensive, die seit Mittwoch läuft, hatten die USA vergangene Woche rund 50 Soldaten abgezogen. Mit dem Schritt machten sie faktisch den Weg frei für Erdogans Einsatz. Trump hatte für diese Entscheidung scharfe Kritik auch aus seinen eigenen Reihen kassiert.

Die humanitäre Lage in dem Gebiet verschärft sich unterdessen weiter. Das UN-Nothilfeprogramm Ocha berichtete, schätzungsweise 130'000 Menschen seien seit Beginn der Kämpfe vertrieben worden. Im Ort Al-Hassaka, in den die Mehrzahl der Menschen geflüchtet sei, habe sich die Wasserversorgung dramatisch verschlechtert. Davon seien etwa 400'000 Menschen betroffen.

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