Antworten zum Konflikt Der «traditionelle» Betrug an den Kurden und seine happigen Folgen

Von Philipp Dahm

11.10.2019

Wie ist die Lage im türkisch-syrischen Grenzgebiet und wer profitiert vom Abzug der Amerikaner? Diese Fragen klären wir hier ebenso wie die nach Flüchtlingen und den Verlierern des Konflikts – wie etwa der EU.

Wie ist die aktuelle Lage?

Das türkische Militär versucht, auf syrischem Gebiet entlang der Landesgrenze eine 30 Kilometer tiefe sogenannte Sicherheitszone zu errichten. Am Mittwochnachmittag hatte die schon lange angedrohte Offensive mit Luftangriffen begonnen, am Abend rückten Bodentruppen über die Grenze nach Süden vor.

Dem von der Kurden-Miliz YPG angeführten Rebellenbündnis Syrische Demokratische Kräfte (SDF) zufolge kam es am Donnerstag in mehreren Orten im Grenzgebiet zu heftigen Kämpfen. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte teilte mit, mindestens 23 SDF-Kämpfer und acht Zivilisten seien getötet worden. Türkische Quellen behaupten, 174 «Terroristen neutralisiert» zu haben, während ein türkischer Soldat ums Leben gekommen sei.

Männer beobachten am 10. Oktober von der türkischen Akcakale-Provinz aus in Syrien einschlagende Granaten.
Männer beobachten am 10. Oktober von der türkischen Akcakale-Provinz aus in Syrien einschlagende Granaten.
Bild: Keystone

Die türkischen Truppen rückten im «Quelle des Friedens» genannten Einsatzes weiter vor, wie das Verteidigungsministerium in Ankara mitteilte. In der türkischen Grenzstadt Akcakale kamen nach Angaben aus Sicherheitskreisen und Spitälern drei Menschen durch Granatenbeschuss aus Syrien ums Leben, darunter ein Kind.

Wer verliert?

Zuerst einmal die Kurden, die mal wieder ein Déjà-vu erleben. Schon im Ersten Weltkrieg hatte Grossbritannien ihnen Unabhängigkeit versprochen, wenn sie denn nur das Osmanische Reich bekämpfen würden – doch der Aufstand wurde nicht belohnt.

Gut 100 Jahre später lassen die Amerikaner die Kurden hängen: «Ich schäme mich zum ersten Mal in meiner Karriere», sagte ein Soldat der Special Forces dem Trump-treuen US-Sender «Fox». «Die Türken machen nicht das, auf das wir uns geeinigt haben. Es ist schrecklich. Wir haben jede vereinbarte Sicherheitszusage eingehalten. Die Kurden haben alle Zusagen [gegenüber den Türken] eingehalten. Es gab keine Bedrohung der Türken von dieser Seite der Grenze aus.

Auch die USA müssen zu den Verlierern dieses Konflikts gezählt werden: Sie haben nicht nur einen Verbündeten im Stich gelassen, sie haben es auch noch leichtfertig getan.

Bret McGurk, der Sondergesandte des Präsidenten für den Anti-IS-Krieg von 2015 bis 2018, nannte Trumps Schachzug eine «impulsive Entscheidung, die ohne Kenntnisse oder Überlegungen [gefällt wurde]. Er schickt Soldaten ohne Unterstützung in die Höhle des Löwen. Er tobt und lässt dann unsere Alliierten im Stich, wenn der Feind nicht auf seinen Bluff hereinfällt oder er mit einem taffen Telefonat konfrontiert wird.»

Peinlich für Washington: Erst droht Trump, er werde im Falle einer Invasion die türkische Wirtschaft «zerstören» – mittlerweile will er aber bloss noch zwischen den Konfliktparteien vermitteln. Historisch abwegig ist die Kritik des Präsidenten, die Kurden hätten die USA im Zweiten Weltkrieg nicht unterstützt – obwohl ihnen der Sturz des IS-Kalifats zu verdanken ist.

Und wer gewinnt?

Der grosse Gewinner ist der starke Mann aus Ankara: Recep Tayyip Erdogan, der schon seit September mit den Hufen scharrt, kann endlich gegen die Kurden vorgehen. Ihre Autonomie in Syrien wie auch im Irak ist ihm ein Dorn im Auge, weil sie auch die Organisation der türkischen Kurden erhöht.

Nicht so viel sollte man dagegen auf Erdogans Ansage geben, er wolle in Nordsyrien wieder ein multiethnisches Land für Assyrer, Turkmenen und Kurden schaffen. Ein Vielvölker-Gebiet ist für ihn nur dann von Interesse, wenn er dort ethnische Minderheiten «entsorgen» kann, die vermeintlich nicht zur Türkei passen.

Liebt die grosse Geste: Präsident Erdogan am Donnerstagabend auf einer AKP-Veranstaltung.
Liebt die grosse Geste: Präsident Erdogan am Donnerstagabend auf einer AKP-Veranstaltung.
Bild: Keystone

Apropos: Erdogan hat die Offensive grad genutzt, um Front gegen seine Kritiker zu machen. Alleine am Donnerstag gab es laut «Business Live» 20 Festnahmen wegen «terroristischer Propaganda» – darunter war auch Hakan Damir, dessen oppositionelles Portal «Birgun» gemeldet hatte, dass es während der Offensive auch zivile Opfer gab. 

Update Freitag, 17.30 Uhr: Türkeiweit gab es bis Freitag sogar 121 Festnahmen. So konnte hinter Gittern landen, wer den Einsatz als «Besatzung» bezeichnet hat. «Diejenigen, die das Krieg nennen, begehen Verrat», polterte Innenminister Süleyman Soylu am Freitag. «Krieg führt man gegen einen Staat.»

Zu den Gewinnern zählen natürlich auch andere Kurden-Feinde wie Bashar al-Assad, der syrische Machthaber in Damaskus, und seine Verbündeten in Moskau sowie der Iran, der wie die Türkei kein Interesse an starken, autonomen Kurden hat.

Warum gehört auch die EU zu den Verlieren?

In EU-Staaten wie Deutschland leben viele türkischstämmige, aber auch viele kurdische Menschen, die die aktuelle Offensive mobilisieren könnte. Deutschland hat also kein Interesse an einer Zuspitzung des Konflikts – und auch Frankreich, Grossbritannien und Italien haben Ankara für die Offensive kritisiert. Doch wenn Washington nicht vorweg geht, wird deutlich, wie macht- und zahnlos die Europäer sind.

Zu allem Überfluss muss sich die EU nun auch noch bedrohen lassen: Präsident Erdogan hat angekündigt, er werde den 3,6 Millionen syrischen Flüchtlingen in der Türkei «die Tore öffnen», wenn es der Westen wage, seine Offensive eine «Invasion» zu nennen.

Im Stich gelassen: Noch im September beäugt ein US-Soldat, wie SDF-Kämpfer einen Posten beziehen.
Im Stich gelassen: Noch im September beäugt ein US-Soldat, wie SDF-Kämpfer einen Posten beziehen.
Bild: Keystone

«Sie sind nicht ehrlich, sie erfinden bloss irgendwelche Worte. Wir dagegen lassen Taten sprechen, und das ist der Unterschied zwischen uns», zitiert der «Independent» Erdogan. Seit Beginn der Offensive seien im Grenzgebiet nun 60'000 Personen neu auf der Flucht, die SDF sprechen von 100'000 Flüchtlingen.

Nicht zuletzt befinden sich auch noch circa 11’000 IS-Kämpfer aus rund 60 Nationen in kurdischer Gefangenschaft. Donald Trump beantwortete laut US-Portal «Axios» auf die Frage, ob nicht Gefahr bestünde, dass diese alle ausbrechen: «Nun ja, sie werden nach Europa fliehen.» Für ihn hat sich das Problem damit quasi erledigt.

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