Lagebild Ukraine Mehr Männer, mehr Sprengkraft – Putin eskaliert unbeeindruckt

Philipp Dahm

3.4.2024

Ukraine greift Raffinerie 1300 Kilometer hinter Frontlinie an

Ukraine greift Raffinerie 1300 Kilometer hinter Frontlinie an

Die Ukraine hat eine Öl-Raffinerie und eine Drohnenfabrik weit hinter der Frontlinie angegriffen. In der Republik Tatarstan sei die drittgrösste Raffinerie Russlands angegriffen und beschädigt worden, hiess es am Dienstag in ukrainischen Geheimdienstkreisen. Laut der russischen Nachrichtenagentur RIA brach ein Brand aus, der nach 20 Minuten gelöscht werden konnte.

03.04.2024

Ungeachtet enormer Verluste an Mensch und Material hält Wladimir Putin den Druck auf die Ukraine aufrecht. Während seine Armee sich langsam voranfrisst, räumt der Gegner: «Die Situation ist wirklich schwierig.»

P. Dahm

3.4.2024

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Evolution des Drohnenkrieges: Die Ukraine setzt mit der Baba Jaga eine Drohne ein, die Bomben abwirft, doch Russland präsentiert bereits einen Prototyp, der 20-mal so viel tragen kann.
  • Rekord: Ukrainische Drohnen treffen Ziele in 1'200 Kilometer Entfernung.
  • Kriegspersonal: Russland zählt seit dem Jahr 2023 507'000 neue Handicapierte im Land. Pro Monat kann Moskau aber 30'000 neue Soldaten rekrutieren und bekommt im Juli 150'000 neue Rekruten.
  • Kriegsmaterial: Russland hat seit Februar 2022 über 15'000 Waffen und Ausrüstungsgegenstände verloren, die dokumentiert sind.
  • Seit Oktober 2023 hat Russland erst 505 Quadratkilometer erobert.
  • Mechanisierte Vorstösse bei Awdijiwka, Bachmut und Kreminna haben Moskau hohe Verluste beschert.

Krieg ist das ewige Spiel von Aktion und Reaktion. Das Eskalationsprinzip gilt für das Schlachtfeld wie auch für Technik und Waffen, die zum Einsatz kommen.

Drohnen: Mehr Tragkraft, höhere Reichweite

Ein zugegeben plakatives Beispiel sind Drohnen: So setzt die Ukraine inzwischen schwere Drohnen vom Typ Baba Jaga ein, die Bomben abwerfen können:

Der Name stammt aus einer slawischen Mythologie: Baba Jaga ist eine hexenähnliche Märchengestalt, die als unberechenbar und sehr gefährlich beschrieben wird. Das gilt auch für die Drohne: Der Hexacopter kann auch nachts angreifen und angeblich bis zu 15 Kilogramm mitführen.

Baba Jaga in einem Buch von V. A. Gatsuk von 1894.
Baba Jaga in einem Buch von V. A. Gatsuk von 1894.
Gemeinfrei

Und Russland? Präsentiert den Prototyp einen riesigen Octocopter, der ganze 300 Kilogramm angeblich 500 Kilometer weit tragen kann. Ob das Ungetüm handlich ist, sei dahingestellt: Wichtig ist, dass die Sprengkraft erhöht wird.

Die Ukraine wiederum vergrössert die Reichweite ihrer Waffen: Zwei ukrainische Drohnen treffen am 2. April eine russische Ölraffinerie in der Republik Tatarstan, die 1'300 Kilometer von der Frontlinie entfernt ist – siehe Video ganz oben.

Rekrutierungs- und Mobilisierungspläne auf beiden Seiten

Der Kreml muss nachlegen, was sein Personal in der Ukraine angeht. Grund sind die hohen Verluste, mit denen die aktuellen Gebietsgewinne erkauft werden. Damit sind nicht nur Tote gemeint, sondern auch die vielen Verletzten, die von der Front zurückkehren: So soll sich alleine 2023 die Zahl der Russen mit Behinderungen um 507'000 Personen erhöht haben.

Doch Moskau sorgt auch laufend dafür, dass die Verluste ersetzt werden: Jeden Monat könnten 30'000 neue Soldaten rekrutiert werden, schätzt das britische Verteidigungsministerium. Hinzu kommen Zwangsrekrutierte aus den besetzten ukrainischen Gebieten, wie etwa im Oblast Luhansk. Ende Juli wird die Armee zudem mit 150'000 Rekruten verstärkt: Zweimal im Jahr hebt Russland traditionell eine neue Generation aus.

Ukraine senkt Alter für Einberufung von Reservisten

Ukraine senkt Alter für Einberufung von Reservisten

Seit zwei Jahren verteidigt sich die Ukraine gegen einen brutalen russischen Angriffskrieg. Doch dem Land fehlen Soldaten: Präsident Wolodymyr Selenskyj gab vor dem Jahreswechsel einen Zusatzbedarf von bis zu 500 000 Soldaten an. Um das zu ändern können können Reservisten künftig bereits ab einem Alter von 25 statt bisher 27 Jahren zum Wehrdienst eingezogen werden.

03.04.2024

Im September waren zuletzt 13'000 Rekruten ausgehoben worden. Diese dürfen theoretisch aber nicht in der Ukraine eingesetzt werden. Gleichzeitig braucht auch Kiew dringend frische Kräfte, weshalb nach Monaten des Zögerns das Rekrutierungsalter von 27 auf 25 Jahre gesenkt wird. Diskutiert wird, Ende des Jahres 50'000 weitere Soldatinnen und Soldaten zu mobilisieren.

Hohe Verluste für zähe Gebietsgewinne

Die russischen Verluste sind nicht nur beim Personal enorm. Alleine in der letzten Märzwoche sollen 5'420 Soldaten getötet und verwundet worden sein. Doch auch das Material schwindet: Im selben Zeitraum werden nach ukrainischen Angaben 1'088 Waffen und Militärausrüstung zerstört oder beschädigt – darunter 90 Panzer und 195 Artilleriesysteme.

In Sachen Waffen und Ausrüstung hat die Zahl der öffentlich dokumentierten Verluste seit Kriegsbeginn die Marke von 15'000 im März geknackt. Darunter befinden sich 2'856 Panzer, 135 Helikopter, 106 Flugzeuge, 20 Schiffe und ein U-Boot, hält der «Kyiv Independent» fest.

Angesichts der Tatsache, dass es für die russische Armee auf dem Schlachtfeld jedoch nur sehr langsam vorangeht, ist der Preis hoch, den sie zahlt. Laut dem Institute for the Study of War sind seit Oktober erst 505 Quadratkilometer zurückgewonnen worden.

«Die Situation an der Front ist wirklich schwierig»

Auch wenn der Gegner zum Beispiel durch die Angriffe russischer Partisanen abgelenkt wird, ist die Situation für die ukrainischen Streitkräfte derzeit «wirklich schwierig», räumt der Oberkommandierende Oleksandr Syrskyi ein. Zumindest habe es keine Fortschritte in «strategischen Gebieten» gegeben.

Der Gegner nutze seine numerische Überlegenheit und pfeife traditionell auf seine Verluste, beschreibt der 58-Jährige. Die Zunahme an Luftangriffen mit Bomben mache ihm Sorge. «Wie auch immer, wir haben gelernt, nicht mit viel Munition, sondern mit der Fertigkeit an den Waffen, die wir haben, [gut] zu kämpfen.»

Die russische Armee hat zuletzt in verschiedenen Offensiven herbe Verluste eingefahren. Neben dem bisher grössten mechanisierten Angriff in diesem Krieg bei Tonenke westlich von Awdijiwka – siehe obiges Video – sind fehlgeschlagene Vorstösse bei Terny westlich von Kreminna und bei Ivanivske westlich von Bachmut zu nennen.

Velina Tchakarova war Direktorin des Austrian Institute for European and Security Policy, bevor sie die Wiener Agentur Face gegründet hat. So könnte der Krieg in der Ukraine ihrer Aussagen nach weitergehen.
Velina Tchakarova war Direktorin des Austrian Institute for European and Security Policy, bevor sie die Wiener Agentur Face gegründet hat. So könnte der Krieg in der Ukraine ihrer Aussagen nach weitergehen.