Lagebild Ukraine Hat Kiew verloren? Von wegen: Der Krieg kommt nach Russland

Von Philipp Dahm

12.3.2024

Erklärt: Putins Problem mit der Nato

Erklärt: Putins Problem mit der Nato

Die Ukraine verlangt Russlands Armee mehr ab als vom Kreml erwartet. Doch das eigentliche Ziel Wladimir Putins ist das Zurückdrängen der Nato: Die europäische Tiefebene ist der Schlüssel zu Moskaus Sicherheit.

14.06.2022

Die russische Armee greift auf breiter Front an und zerstört immer mehr westliche Waffen, während der Ukraine die Munition ausgeht. Doch nur weil eine Schlacht verloren geht, ist der Krieg noch nicht vorbei.

Von Philipp Dahm

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Die ukrainischen Streitkräfte werden vom Mangel an Personal, Munition und Gerät geplagt.
  • NASAMS-Radar, Patriot-Abschussrampen und Leopard 2A6: Moskau kann die Zerstörung westlicher Waffensysteme feiern.
  • Dafür brennt es an der russischen Heimatfront: Drohnen und oppositionelle russische Soldaten stiften Chaos hinter der Grenze.
  • Kiews Militärgeheimdienst verspricht derweil eine Überraschung auf der Krim.
  • Experten relativieren das ukrainische Munitionsproblem und verweisen auf hohe russische Materialverluste.
  • Das russische Momentum westlich von Awdijiwka erlahmt. Auch westlich von Bachmut ist Kiews Verteidigung stark.
  • Einzig westlich von Marinka und Kreminna kommt Putins Armee ein Stück weit vorn.

«Im dritten Kriegsjahr scheint die Ukraine schwach, unvorbereitet, in der Defensive», schreibt der «Spiegel»: Der Mangel an Munition, Männern und Waffen mache Kiew zu schaffen. «So werden wir nicht lange durchhalten können», sagt ein Artilleriekommandeur dem deutschen Magazin, das sich bange fragt, ob ein russischer Durchbruch bevorsteht.

Auch der «Economist» spricht mit ukrainischen Soldaten über den Munitionsmangel. Ein Kämpfer mit dem Rufnamen Cartel führt zwölf Panzerhaubitzen sowjetischer Bauart.

Der 24-Jährige sagt, es wäre «komfortabel», wenn ihm pro Tag 150 Granaten zur Verfügung stünden, doch es seien bloss 20 bis 30. CNN ergänzt, Russland produziere mit 250'000 Geschossen monatlich dreimal mehr Artilleriegranaten als die USA und Europa.

Und abgerundet werden die schlechten Nachrichten für Kiew durch den Verlust westlicher Waffensysteme: Russen lassen sich mit einem erbeuteten Leopard 2A6 fotografieren und feiern die Zerstörung von Patriot- und NASAMS-Komponenten durch Drohnen.

Ist es Zeit für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und seine Militärs, die Flinte ins Korn zu werfen?

Feuer an der Heimatfront

Von wegen. Wladimir Putin hat zwar grössere Reserven als sein Gegenspieler, doch an der Front kommen die Vorstösse der russischen Armee zum Erliegen. Gleichzeitig brennt es in Russland: Explosionen werden aus Kursk, Belgorod, Nischni Nowgorod, Tula und Woronesch gemeldet.

Auch in St. Petersburg ist ein Kraftwerk in Brand gesteckt worden, während ein Angriff auf Moskau abgewehrt worden sein soll. Es sind aber nicht nur Drohnen, die in Russland vor allem Raffinerien, Treibstoffdepots und Fabriken ins Visier nehmen.

Denn auch am Boden droht Moskau Ungemach. Soldaten der Legion Freiheit Russlands, des Russisches Freiwilligenkorps und des Sibirischen Bataillons sind offenbar über die Grenze in die Regionen Belgorod und Kursk eingerückt und liefern sich Gefechte mit der russischen Armee und Nationalgarde.

Die drei Einheiten sollen an drei verschiedenen Stellen vom Oblast Charkiw aus in russisches Territorium vorgedrungen sein. Sie stossen dort nach eigener Aussage kaum auf Widerstand und sollen bereits kleinere Ortschaften eingenommen haben: Die russische Armee ist augenscheinlich überrascht worden.

Budanow verspricht Krim-Überraschung

Und damit nicht genug: Der ukrainische Militärgeheimdienst GUR alias HUR verspricht weitere Nackenschläge für Putin. Denn laut seinem Chef Kyrylo Budanow war die Versenkung eines russischen Patrouillenbootes am 5. März nur der Auftakt einer geplanten grösseren Aktion.

«Das alles ist als Vorbereitung für eine Grossoperation auf der Krim», sagt Budanow. «Eine Art der Überprüfung, ob unser Verständnis davon, wie man dort rein- und rauskommt, korrekt ist. Es ist auch gut für die Leute [auf der Krim], die seit zehn Jahren unter Besatzung leben.»

Viele der Bewohner*innen fühlten sich «vergessen und verlassen»: «Es gibt Leute, die die Ukraine lieben, aber glauben, dass sie betrogen worden sind. Es gibt viele solche Leute», glaubt der 38-Jährige, den der Kreml gerne tot sehen würde: Seit Kriegsbeginn soll es zehn versuchte Attentate auf Budanow gegeben haben.

Munitionsproblem ist relativ

Die Lage für die Ukraine sei nicht so schwarz, wie sie gemalt werde, meint auch Jakub Janovsky, der unter anderem für Bellingcat und Oryx arbeitet. Er kritisiert CNN: Russland produziere nicht dreimal mehr Artilleriegranaten als der Westen. So habe der US-Sender auf westlicher Seite nur 155-Millimeter-Geschosse gezählt, auf der Gegenseite dagegen alle Kaliber.

Dabei mache 152-Millimeter-Munition, die als Pendant gilt, nur die Hälfte der drei Millionen Geschosse aus, die Russland produziere. Die westliche Munition sei zudem genauer, weshalb davon weniger gebraucht werde. Weiter schreibt Janovsky auf X, die Lücke werde Ende 2024 kleiner: «Die Nato-Produktion wird wahrscheinlich gegen Ende 2025 gleichziehen.»

Hinzu komme, dass auch die Ukraine andere Kaliber verschiesse. Nicht zuletzt scheint auch das tschechische Bemühen Früchte zu tragen, 800'000 Granaten für Kiew im Ausland zusammenzukaufen. Gleichzeitig leeren sich die russischen Waffendepots – siehe X-Post und Video oben: Putin nutzt sein Kriegsgerät laufend ab.

Russisches Momentum westlich von Awdijiwka erlahmt

Das zeigt sich auch an der Front. Moskau setzt auf die «Tausend-Schnitte-Taktik», um auf breiter Front kleinere Attacken durchzuführen, um Schwachstellen zu finden, an denen dann nach der «Fleischwolf»-Methode Soldaten verheizt werden, bis man Erfolg hat.

Doch nach dem Fall von Awdijiwka hat der Kreml diese Lücke noch nicht gefunden: Der Vorstoss hinter der Stadt Richtung Westen ist, wie im letzten Lagebild prognostiziert, zum Erliegen gekommen, nachdem sich die russische Armee der neuen ukrainischen Verteidigungslinie (rote Linie) genähert hat.

Westlich von Awdijiwka haben sich die ukrainischen Truppen an eine neue Linie (rot) zurückgezogen, die der Gegner nicht ohne Weiteres durchbrechen kann.
Westlich von Awdijiwka haben sich die ukrainischen Truppen an eine neue Linie (rot) zurückgezogen, die der Gegner nicht ohne Weiteres durchbrechen kann.
Google Earth/phi

Diese liegt erhöht und hinter einem Fluss, was sich einfach verteidigen lässt. Auf der anderen Flussseite greifen Moskaus Kräfte durch schlammige Gebiete an, was die Offensive dort zum Erlahmen gebracht hat, wie auch russische Soldaten einräumen.

Starke ukrainische Verteidigung westlich von Bachmut

50 Kilometer weiter nördlich gehen die Gefechte westlich von Bachmut unvermindert weiter. In diesem Sektor hat die ukrainische Artillerie sogar die Überhand und nimmt russische Nachschublinien unter Feuer, weil die russische Artillerie bei Ivanivske konzentriert hat, berichtet Reporting from Ukraine.

Russische Nachschubwege (blaue Linie) bei Bachmut liegen unter ukrainischem Artilleriefeuer.
Russische Nachschubwege (blaue Linie) bei Bachmut liegen unter ukrainischem Artilleriefeuer.
Youtube/Reporting from Ukraine

Ivanivske ist durch Artilleriefeuer und Gleitbomben inzwischen dem Erdboden gleichgemacht. Beim Dorf Bohdanivka weiter nördlich konnte die ukrainische Armee dagegen etwas Boden gutmachen (blaue Fläche im obigen Bild). 

Massiv: der Verteidigungsgürtel bei Tschassiv Jar.
Massiv: der Verteidigungsgürtel bei Tschassiv Jar.
Youtube/Reporting from Ukraine

Moskaus Ziel in diesem Sektor ist die Eroberung von Tschassiw Jar, das allerdings erhöht hinter einem Kanal liegt. Zudem haben Kiews Kräfte einen Ring von Verteidigungsanlagen erreichtet und die Felder im Osten der Stadt vermint.

Kleine Erfolge für die russische Armee

Der ukrainische Brückenkopf am linken, östlichen Dnipro-Ufer hält – auch wenn Moskau zuletzt berichtet hatte, man habe den Gegner von dort vertrieben. Kiew meldet, man habe einen russischen Kommandoposten in dem Sektor zerstört, der sich auf einem Schiff befunden haben soll.

Das Gerücht, dabei sei der Militärblogger «13» getötet worden, hat sich als Ente entpuppt. Auch scheint fraglich, ob Moskau einen Kommandoposten im Fluss so nah an ukrainischem Gebiet platziert, wenn das östliche Hinterland sich viel besser eignen würde.

Ist die russische Armee zuletzt gar nicht vorangekommen? Doch: Westlich von Kreminna sind Putins Soldaten vorgerückt und bedrohen die Dörfer Terny und Yampolivka.

Auch westlich von Marinka ist die russische Armee Richtung Heorhiivka vorgestossen.

Doch angeblich hat die ukrainische Seite die Attacke zurückgeschlagen. Videos kapitaler Drohnentreffer sollen diese Aussage untermauern, die sich jedoch noch nicht verifizieren lässt.