Coronakrise Hat er wirklich Churchill-Format? Nun muss sich Johnson beweisen

Von Christoph Meyer, dpa/gbi

29.3.2020

Der britische Premierminister Boris Johnson agierte in der Coronavirus-Krise eher konzeptlos.
Der britische Premierminister Boris Johnson agierte in der Coronavirus-Krise eher konzeptlos.
Bild: Keystone

Selbst in der Corona-Krise ging London einen eigenen Weg: Erst nach langem Zögern schwenkte Premier Boris Johnson auf den Kurs anderer Länder ein. Kritiker fürchten, dass eine Katastrophe nun unabwendbar ist. 

Grossbritanniens Politik kommt kaum ohne Vergleiche aus dem Zweiten Weltkrieg aus. Premierminister Boris Johnson bemüht diese Rhetorik besonders gerne. Immer wieder inszenierte er sich im Ringen um den Brexit als zweiter Winston Churchill. Brüssel musste hingegen als Feindbild herhalten, dem man bei den Verhandlungen um den EU-Austritt unter keinen Umständen auch nur eine Handbreit nachgeben dürfe.

Doch Johnson hätte sich bis vor Kurzem wohl kaum träumen lassen, dass er mit der Coronavirus-Pandemie einer Herausforderung gegenüberstehen würde wie seit Churchill kein britischer Premier mehr. Geschweige denn, dass er selbst an dem heimtückischen Virus erkranken würde, wie er am Freitag bekanntgeben musste. Nun sitzt er in selbstverordneter Isolation, versicherte seinen Landsleuten aber auf Twitter: «Zusammen werden wir es [das Virus] besiegen.»

Johnsons Erkrankung ist die neueste Wendung im Schlingerkurs, den er im Kampf gegen den unsichtbaren Feind bisher gefahren ist – und die Bilanz fällt bisher durchwachsen aus.

Britische Medien warnen bereits, Johnson könne als zweiter Chamberlain in die Geschichte eingehen. Kriegspremier Churchill, der seine Landsleute mit der Forderung nach Blut, Schweiss und Tränen zum Durchhalten beschwor, geniesst in Grossbritannien Heiligenstatus. Sein Vorgänger Neville Chamberlain hingegen gilt als Inbegriff des Versagers. Er hatte versucht, Hitlers Grossmachtstreben durch Zugeständnisse (Appeasement) einzuhegen – mit fatalen Folgen.

Plötzliche Kehrtwende

Seinen überhaupt ersten überzeugenden Auftritt in der Corona-Krise hatte Johnson Anfang dieser Woche, als er in einer Ansprache an die Nation weitgehende Ausgangsbeschränkungen verkündete. Mit ernster Miene rief er die Briten dazu auf, zu Hause zu bleiben. «Von heute Abend an muss ich dem britischen Volk eine einfache Anordnung geben: Sie müssen zu Hause bleiben.»



Auch davor war Johnson zwar beinahe täglich in Pressekonferenzen zu sehen, doch seine flapsigen Auftritte, flankiert von Gesundheitsexperten, stifteten mehr Verwirrung, als dass sie Klarheit schufen.

Noch am Freitag vergangener Woche hatte er vor laufender Kamera gesagt, er hoffe, seine Mutter zum britischen Muttertag wenige Tage später sehen zu können. Tags darauf rief er alle Briten auf, ihre Mütter bloss nicht zu besuchen.

Als der Premier gefragt wurde, ob es eine Abschottung der besonders stark von der Epidemie betroffenen Hauptstadt London geben werde, wollte er nichts ausschliessen – und löste damit wohl einen Exodus von Menschen aus, die aus der Stadt flohen und das Virus womöglich in ländliche Gebiete schleppten. Tags darauf versicherte ein Pressesprecher, es gebe «null Aussicht» auf eine Abriegelung Londons.

Durch Massenansteckungen zu Immunität

Befremden löste auch Johnsons Zögern aus, schneller härtere Massnahmen zu ergreifen, um die Epidemie unter Kontrolle zu bringen. Der wissenschaftliche Chefberater der Regierung, Patrick Vallance, begründete das unter anderem mit der Hoffnung, eine rasche Durchseuchung der Bevölkerung könne zu einer sogenannten Herdenimmunität führen und die Epidemie damit zum Erliegen bringen. Dabei hatten Kritiker schon früh gewarnt, ein solcher Ansatz könne Zehn-, wenn nicht Hunderttausende Menschen das Leben kosten.

Johnson betonte stets, er lasse sich von der Wissenschaft leiten. Doch der Verdacht wuchs, die Regierung könne eine zynische Abwägung zwischen dem Tod älterer und verletzlicher Menschen und dem Wohl der Wirtschaft getroffen haben. Die Folgen davon hatte sie aber offenbar massiv unterschätzt.

Britische Medien kramten Zitate Johnsons aus der Zeit hervor, als er sich für den Posten des Rathauschefs in London beworben hatte. Sein Held, sagte er damals, sei der Bürgermeister in dem Hollywoodfilm «Der weisse Hai», der darauf bestand, die Strände geöffnet zu lassen, um die Tourismusbranche nicht zu schädigen, obwohl der Hai einen Badenden nach dem anderen auffrass.



Was ihm dabei imponiert habe, sei die Rationalität des Bürgermeisters gewesen, der sich nicht von Hysterie habe leiten lassen, so Johnson. Obwohl sich die Entscheidung später als falsch herausgestellt habe, wie er zugab.

Wirtschaft über Menschenleben?

Der «Sunday Times» und der «Financial Times» zufolge soll Johnsons Berater Dominic Cummings ein glühender Verfechter dieses Ansatzes gewesen sein. Personen, die mit Cummings gesprochen hatten, beschrieben dessen anfängliche Einstellung der «Sunday Times» zufolge mit dem Satz: «Herdenimmunität, Wirtschaft schützen, auch wenn das bedeutet, dass leider ein paar Rentner sterben.»

Diese Charakterisierung wurde von der Regierung später heftig zurückgewiesen, doch auch andere Medien mit guten Kontakten in den Regierungsapparat berichteten Ähnliches.

Cummings, der als Architekt der Siege Johnsons beim Brexit-Referendum und der Parlamentswahl im Dezember gilt, hat im Regierungssitz Downing Street Einfluss wie kaum ein anderer. Er vollzog den Berichten nach später eine Kehrtwende, als ihm klar wurde, dass tatsächlich Hunderttausende Leben auf dem Spiel standen, und pochte auf stärkere Massnahmen, um das Virus einzudämmen. Doch soll er bei Johnson damit zunächst auf taube Ohren gestossen sein.



Der Premier, so hiess es, wollte keine unpopulären Ausgangsbeschränkungen verhängen, um seiner Beliebtheit in der Bevölkerung nicht zu schaden. Ausserdem seien dem freiheitsliebenden Politiker derartige Massnahmen zuwider.

Der ehemalige Gesundheitsminister Jeremy Hunt, der auch Johnsons Konkurrent um die Tory-Parteiführung ist, warnte im Parlament: «Es könnte sein, dass es schon zu spät ist, um Verhältnisse wie in Italien zu verhindern». Er rechnet damit, dass in Grossbritannien bereits über 300'000 Menschen mit dem Virus infiziert sein könnten.

Am heutigen Sonntag stieg die Zahl der Coronavirus-Todesfälle in Grossbritannien auf über 1'020 an, und mittlerweile will Johnson auch härtere Massnahmen nicht mehr ausschliessen: «Wir werden nicht zögern, weiterzugehen, falls uns der wissenschaftliche und medizinische Rat sagt, dass wir das tun müssen», schreibt er in einem offenen Brief an die Bevölkerung.

Churchill oder Chamberlain? Diese Frage könnte sich für Johnson bereits in wenigen Wochen entscheiden.

Die Coronavirus-Pandemie: Eine Chronologie

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