Experten alarmiert Pandemie kann Grossbritannien schlimmer als Italien treffen

dpa/tafi

23.3.2020

Das Coronavirus könnte in Grossbritannien besonders viele Menschenleben fordern – vielleicht sogar mehr als in Italien, fürchten Experten. Doch kann die anfangs zögerlich handelnde Regierung mit ihren Massnahmen die Gefahr noch abwehren?

Erste Kliniken weisen Patienten ab, Krankenschwestern schützen sich mit Müllbeuteln: In Grossbritannien spitzt sich die Coronavirus-Krise zu. «Wir wissen, was auf uns zukommt – und wir wissen, dass das gewaltig sein wird», zitierte der Fernsehsender Sky News am Wochenende einen Mediziner eines Londoner Krankenhauses, der anonym bleiben wollte. Die Lage in Grossbritannien könnte ihm zufolge noch verheerender als in Italien werden. Aus Mangel an Kapazitäten und Ausstattung würden er und seine Kollegen künftig Entscheidungen über Leben und Tod treffen müssen, fürchtet er.

Ärzte haben britischen Medien zufolge schon die offizielle Anweisung hierfür bekommen: Sie sollen nach Überlebenschancen der Patienten abwägen, wer Hilfe erhält. Das Gesundheitsministerium kündigte am Wochenende an, dass Menschen, bei denen eine Infektion mit dem neuartigen Erreger etwa wegen Vorerkrankungen besonders gefährlich sein könnte, drei Monate zu Hause in Isolation leben sollen. Betroffen von dieser Massnahme seien 1,5 Millionen Briten.

In seiner Strategie, das Coronavirus abzuwehren, machte Boris Johnson nach Meinung vieler Experten gleich am Anfang einen grossen Fehler.
In seiner Strategie, das Coronavirus abzuwehren, machte Boris Johnson nach Meinung vieler Experten gleich am Anfang einen grossen Fehler.
Keystone

Auch Premier Boris Johnson klingt nicht mehr gerade zuversichtlich. Noch vor einigen Tagen hatte er gesagt, dass das Schlimmste im Frühsommer überstanden sein könnte, sollten sich landesweit alle an die Verhaltensregeln halten. Jetzt warnt er davor, dass die Krankenhäuser in zwei bis drei Wochen so überfordert sein könnten wie die in Italien. Und zum Muttertag, der in Grossbritannien bereits am Sonntag begangen wurde und nicht wie in Deutschland erst im Mai, gab er seinen Landsleuten mit auf den Weg: Das beste Geschenk für die älteren Mütter sei, sich von ihnen fernzuhalten, um sie nicht zu gefährden.

Brexit vertreibt medizinisches Personal

Was die Lage im Vereinigten Königreich so prekär macht, ist der desolate Zustand des staatlichen Gesundheitsdienstes NHS (National Health Service). Der vor allem aus Steuermitteln finanzierte NHS war einst ein Aushängeschild des Landes. Doch seit vielen Jahren ist er chronisch unterfinanziert, überlastet und marode. Kritiker sprechen davon, dass das Gesundheitswesen schlicht kaputtgespart worden ist.



So standen in Grossbritannien zunächst auch nur knapp 5'000 Beatmungsgeräte zur Verfügung – das Land belegte damit einen der letzten Plätze in den europäischen Statistiken auf 100'000 Einwohner berechnet. Johnson rief in der Not sogar Staubsaugerhersteller und Autobauer auf, solche Apparaturen herzustellen. Am Samstag kamen noch einmal fast 1'200 Beatmungsgeräte durch eine Vereinbarung mit privaten Kliniken hinzu. Dennoch dürfte das Prognosen zufolge bei weitem nicht für alle Covid-19-Lungenkranken reichen.

Doch das ist nicht das einzige Problem mit Blick auf die Pandemie. Es mangelt auch an Pflegepersonal und Ärzten. Nicht zuletzt wegen des Brexits haben viele medizinische Fachkräfte das Land schon längst verlassen. In den Wintermonaten, wenn die Grippefälle hinzukommen, steht das Gesundheitswesen regelmässig kurz vor dem Kollaps. Kritiker werfen Johnson vor, dass er durch seinen Schlingerkurs im Kampf gegen das Coronavirus auch noch wertvolle Zeit verloren habe.

Müllbeutel statt Schutzanzüge

Ein Londoner Krankenhaus musste bereits in der vergangenen Woche schwerkranke infizierte Patienten abweisen, weil es keine Kapazitäten mehr hatte. Die völlig erschöpften Krankenschwestern schützten sich dort mit grossen, blauen Müllbeuteln vor einer Ansteckung. «Wir mussten selbst die Initiative ergreifen», berichtete eine Krankenschwester dem «Telegraph».

Es fehle an Masken, OP-Kitteln und Handschuhen. Man brauche aber eine solche Ausstattung. «Ansonsten werden Krankenschwestern und Ärzte sterben – so einfach ist das.»

Das Virus ist inzwischen in allen Landesteilen des Vereinigten Königreichs aufgetaucht. Nach Regierungsangaben vom Sonntag haben sich 5'683 Menschen infiziert, 281 sind gestorben. Besonders betroffen ist London, vor allem im Parlamentsviertel und der Umgebung. Und bei weitem nicht alle Verdachtsfälle werden auf den Erreger getestet.

Nicht mehr in den Pub

Noch bewahren die meisten Briten angesichts der Gefahr Haltung – eine «stiff upper lip», eine steife Oberlippe, wie man in Grossbritannien sagt. Dass sie sich aber doch grosse Sorgen machen, sieht man an den Hamsterkäufen: Viele Supermarktregale in London, Brighton oder in anderen Städten sind bereits leer. Völlig unnötig und unfair anderen gegenüber sei das, polterte Ernährungs- und Landwirtschaftsminister George Eustice am Samstag in London los. Die Lebensmittelhersteller hätten ihre Produktion sogar um 50 Prozent gesteigert.

Vor allem Klopapier ist kaum noch zu bekommen. Eine zunehmende Anzahl von Menschen benutzt in der Not alte Zeitungen und Küchenrollen. Ausgerechnet das könne aber die Abwasserkanäle verstopfen, warnte das Unternehmen Northumbrian Water.

Seit Samstag sind nun landesweit auch alle Bars, Restaurants und Cafés geschlossen, um die Ausbreitung des zuerst in China aufgetauchten Erregers etwas zu bremsen. Auch Nachtclubs, Theater, Kinos, Freizeitzentren sowie Sportstudios dürfen nicht mehr betrieben – und die beliebten Pubs. «Ich weiss, dass wir etwas Aussergewöhnliches machen, wir nehmen das uralte und unveräusserliche Recht frei geborener Menschen, in den Pub zu gehen, weg», sagte Johnson.

Die Coronavirus-Krise – eine Chronologie

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