Closeup US-WahlenDie «Sternenstadt» Flagstaff – eine linke Insel im rechten Arizona
Von René Sollberger, Flagstaff
3.11.2020
Flagstaff ist ein besonderes Pflaster. Im Umfeld der Universität wählt die Kleinstadt in Arizona seit vielen Jahren demokratisch, ganz anders als der Bundesstaat insgesamt. Aber jetzt wackelt ganz Arizona.
Im Sommer, wenn das Thermometer in Las Vegas monatelang jeden Tag über 40 Grad klettert, fahre ich oft nach Flagstaff in unsere Ferienwohnung. Das dauert fast vier Stunden, aber der Weg lohnt sich – auch im Winter, zum Skifahren in der Arizona Snowbowl.
Die Kleinstadt mit 75'000 Einwohnern ist mir sympathisch. Sie liegt an der historischen Route 66 im Norden des Bundesstaats Arizona auf 2'100 Meter Höhe inmitten grosser Kiefernwälder, unweit vom Grand Canyon. In der Altstadt pulsiert das Leben. Das beste Restaurant heisst vielversprechend «Karma». Man trifft viele junge und viele gebildete Leute.
Hier dominiert die Farbe Blau, der Ort ist seit Jahrzehnten eine demokratische Insel im rechtskonservativen Bundesstaat Arizona. Das einzige Trump-Pence-Plakat, das ich sehe, steht nicht vor einem Haus, sondern ziert einen Offroader. Der Fahrer dieses Jeep Wrangler führt das Plakat offenbar mit, um es jeweils auf die Frontscheibe zu legen, wenn er das Auto abstellt.
Pluto verhalf Flagstaff zu Weltruhm
Die US-Wahlen bei «blue News»
Wir berichten ab Dienstagmittag durchgehend mit einem Live-Ticker, aktuellen Hintergründen und Analysen über die Wahlen in den USA.
In Flagstaff wählen 55 Prozent demokratisch, 35 Prozent republikanisch, 10 Prozent eine unbedeutende Partei wie die Grünen oder die Freiheitlichen. Das ist nicht verwunderlich, denn die Stadt lebt von und mit der grossen Universität NAU (Northern Arizona University). Hier entdeckte ein Astronom 1930 den Zwergplaneten Pluto, was dem Observatorium Weltruhm verschaffte. Zudem wurde Flagstaff 2001 die erste offizielle «Sternenstadt» (Dark Sky City). Dank spärlicher, meist gelber Beleuchtung von Strassen und Gebäuden kann man hier – mitten im Ort – nachts die Milchstrasse sehen.
Ebenso wie die Wahl des Präsidenten scheint hier ein Sitz im Senat die Gemüter zu bewegen. Schafft es der demokratische Kandidat Mark Kelly, ein ehemaliger Astronaut, gegen die republikanische Martha McSally, eine ehemalige Militärpilotin? Die Sensation wäre perfekt. Erstmals in der Geschichte würde Arizona zwei Demokraten in die kleine Kammer nach Washington entsenden. Denn der andere Sitz wird seit 2019 von der Demokratin Kyrsten Sinema gehalten.
Pikant: Mark Kelly ist mit der früheren Kongressabgeordneten Gabby Giffords verheiratet. Ihr Name ist bekannt, seit sie im Januar 2011 bei einem Attentat auf ihre Person durch einen Kopfschuss lebensgefährlich verletzt wurde. Beim Anschlag in Tucson wurden weitere Menschen verletzt. Sechs verloren ihr Leben.
Pikant zudem: Martha McSally hat vor zwei Jahren die Wahl gegen Kyrsten Sinema verloren. Dennoch ist McSally in den Senat eingezogen – für den verstorbenen John McCain. Gouverneur Governor Doug Ducey, ein Republikaner und Trump-Fan, hatte sie ernannt. Aber jetzt muss sie vom Volk bestätigt werden. Senatsmitglieder werden für sechs Jahre gewählt.
Amerika wählt: «blue News» begleitet die heisse Phase des Duells um das Weisse Haus nicht nur mit dem Blick aus der Schweiz, sondern auch mit Berichten von Schweizer Journalisten, die in den USA leben. Trump oder Biden? Am 3. November wird gewählt – nicht nur der Präsident, sondern auch ein Drittel des Senats, das komplette Repräsentantenhaus sowie in elf Staaten der Gouverneur.
Arizona zeigt stellvertretend die politische Zerrissenheit der ganzen USA. Vor vier Jahren hat hier Donald Trump mit 4.5 Prozentpunkten Vorsprung auf Hillary Clinton gewonnen. Vor allem die 5-Millionen-Agglomeration der Hauptstadt Phoenix wählt republikanisch. Tucson ganz im Süden – ähnlich wie Flagstaff mit einer grossen Universität – wählt demokratisch. Der Bundesstaat könnte dazu beitragen, den Senat zu kippen, wo derzeit 53 Republikaner gegen 47 Demokraten das Sagen haben. Ein Drittel der Sitze steht zur Wahl.
Laut den Umfragen liegt in Arizona derzeit Joe Biden vorn, wenn auch nur mit 3 bis 5 Prozentpunkten. Daraus ergibt sich aber gemäss dem renommierten US-Wirtschaftsmagazin «Economist» unter Berücksichtigung anderer politisch-ökonomischer Faktoren für Trumps Herausforderer eine Gewinnwahrscheinlichkeit von 72 Prozent (Stichtag: 2. November 2020). Das sah im Frühling noch ganz anders aus (siehe Grafik). Eines steht fest: Das linke Flagstaff würde sich über Bidens Sieg freuen.
René Sollberger lebt seit 2013 in den USA, zuerst zwei Jahre in Boston, danach fünf Jahre in San Francisco, seit 2020 in Las Vegas. Er ist mit einer Amerikanerin verheiratet und arbeitet als Journalist mit Fokus auf Wirtschaft und Politik, früher unter anderem bei «Cash», «Berner Zeitung» und «Handelszeitung».