Closeup US-WahlenSo unterdrückt Amerika das Wahlrecht unliebsamer Bürger
Von Helene Laube
27.10.2020
Auch wenn Donald Trump dauernd davor warnt: Wahlbetrug ist in den USA selten. Hingegen nutzen vor allem die Republikaner zahlreiche fragwürdige und teils illegale Methoden, um den Wahlausgang zu beeinflussen.
William Tariq Palmer wurde 1988 wegen eines Überfalls auf einen Mann in einem Parkhaus in Kalifornien verurteilt. Er erhielt eine lebenslange Freiheitsstrafe ohne Möglichkeit vorzeitiger Entlassung. Damals war er 17 Jahre alt. Nachdem er jahrzehntelang für seine Entlassung gekämpft und 31 Jahre und 22 Tage der Strafe abgesessen hatte, durfte er im März 2019 das Gefängnis verlassen. Da war er 48. Im Gefängnis wurde er erwachsen. Seine Eltern starben. Er konnte nicht heiraten, keine Familie gründen. Und er konnte nicht wählen.
Im Fokus: US-Wahlen 2020
Amerika wählt: «blue News» begleitet die heisse Phase des Duells um das Weisse Haus nicht nur mit dem Blick aus der Schweiz, sondern auch mit Berichten von Schweizer Journalisten, die in den USA leben. Trump oder Biden? Am 3. November wird gewählt. Aber nicht nur der Präsident, sondern auch 35 Senatssitze, das komplette Repräsentantenhaus sowie elf Gouverneure werden neu gewählt.
Palmer wird auch an den Wahlen am 3. November nicht teilnehmen dürfen. Menschen wie er – bedingt Entlassene – dürfen in Kalifornien nicht zur Urne gehen, genauso wenig wie Menschen, die eine Haftstrafe in einem vom Staat Kalifornien oder der Bundesregierung betriebenen Gefängnis absitzen. Palmers Bewährungszeit beträgt drei bis fünf Jahre, endet also frühestens im März 2022. So fühlt sich der heute 50-Jährige weiterhin machtlos, unfrei. «Wenn ich wählen dürfte, würde ich mein Recht ausüben, Nein zu einem System zu sagen, das nur die Wahl zwischen zwei Parteien, zwei Präsidentschaftskandidaten und keine Direktwahl zulässt – und nicht alle Bürger wählen lässt», sagt der Mann, der in San Francisco lebt und arbeitet. «Mit meiner Stimme könnte ich andere ermutigen und für Hunderttausende votieren, deren Stimmrecht unterdrückt wird.»
Obwohl er von der Urne ferngehalten wird, kämpft Palmer seit seiner Freilassung für eine Änderung des kalifornischen Wahlrechts. Am 3. November stimmen die Wähler im bevölkerungsreichsten US-Teilstaat unter anderem auch über ein Gesetzesvorhaben ab, das auf Bewährung Freigelassenen das Wahlrecht zurückgibt. Palmer nimmt an Kundgebungen für diese «Proposition 17» teil und setzt sich als Mitarbeiter der Organisationen «All of Us or None» und «Legal Services for Prisoners with Children» für die Rechte von Häftlingen und aus der Haft Entlassenen ein. «Es ist an der Zeit, dass wir über jeden Verfassungszusatz, jedes Gesetz und jede Regel und Vorschrift abstimmen, die den demokratischen Prozess der Bürger einschränken», sagt Palmer.
Fast die Hälfte der amerikanischen Bundesstaaten macht es für Millionen Wahlberechtigte schwer bis unmöglich, ihre Stimme abzugeben – auch wenn sie noch nie verurteilt wurden. Schwarze wie Palmer, Latinos und die Ureinwohner werden gezielt von der Teilnahme am demokratischen Prozess abgehalten. Bis zur Verabschiedung des Wahlrechtsgesetzes von 1965 (siehe Kasten) waren es Schikanen wie Lese- und Schreibtests oder Wahlsteuern und nicht selten physische Gewalt.
Voting Rights Act
Das Wahlrechtsgesetz von 1965 (Voting Rights Act), die wohl wichtigste Errungenschaft der Bürgerrechtsreformen der Sechzigerjahre, unterband diskriminierende Methoden und Gesetze. Es sollte sicherstellen, dass schwarze Amerikaner und andere Minderheiten den gleichen Zugang zu Wahlen haben wie weisse Bürger. 2013 höhlten die fünf konservativen Richter des Obersten Gerichtshofs das Gesetz aus, indem sie ein wesentliches Element für verfassungswidrig erklärten. Dieser Absatz 5 schrieb vor, dass Staaten und Bezirke, die besonders mit Wählerdiskriminierung aufgefallen waren, jede Änderung ihres Wahlrechts von Washington genehmigen lassen mussten. Die Richter begründeten ihre Entscheidung absurderweise auch damit, dass sich die Situation in den Südstaaten – also den immer noch rassistischen Ideologien verhafteten, ehemaligen Sklavenstaaten – derart verbessert habe, dass «Section 5» nicht mehr nötig sei. Das sei so, als würde man «seinen Schirm in einem Regensturm wegschmeissen, weil man nicht nass wird», kritisierte die im September verstorbene Richterin Ruth Bader Ginsburg die Entscheidung im Minderheitenvotum der vier nach links tendierenden Richter. Schliesslich wurden die Südstaaten erst durch den nun kassierten Absatz zu pflichtgemässem Verhalten gezwungen. Bereits wenige Stunden nach der Urteilsverkündung startete eine neue Welle von Taktiken zur Wählerunterdrückung in den USA.
Heute gehören die Schliessung von Wahllokalen, die kreative Gestaltung von Wahlkreisen (das sogenannte Gerrymandering), erschwerter Zugang zur Wahl oder Identifikationsgesetze zu den gern eingesetzten Tricks und Taktiken. Und dieses Jahr werden angesichts der Verwerfungen im Land Einschüchterungsversuche und mögliche Gewalt an den Urnen befürchtet – vor allem dort, wo viele Schwarze wählen. In mehreren Staaten ist es erlaubt, Waffen in die Wahllokale mitzubringen. Und Präsident Donald Trump giesst selbst Öl ins Feuer und fordert seine nicht selten schwer bewaffneten Anhänger immer wieder auf, die Wahllokale genauestens zu «beobachten».
Es sind vor allem Republikaner, die einiges dafür tun, dass all jene ihnen unliebsamen Bevölkerungsgruppen nicht wählen können, die mit hoher Wahrscheinlichkeit demokratisch wählen. Angesichts des Kopf-an-Kopf-Rennens von Amtsinhaber Trump und seinem demokratischen Herausforderer Joe Biden in den Teilstaaten mit knappen Mehrheitsverhältnissen («Swing States») könnte diese bedenkliche Praxis den Wahlausgang bestimmen.
Eine Übersicht der gängigsten Methoden
Verlust des Wahlrechts: William Tariq Palmer ist einer von 5,2 Millionen Amerikanern, denen wegen einer Verurteilung das Stimmrecht vorübergehend oder dauerhaft abgesprochen wurde. Das entspricht fast 2,3 Prozent der rund 235 Millionen stimmberechtigten Bürger Amerikas: Die USA haben mit 2,2 Millionen Häftlingen weltweit sowohl absolut als auch relativ zur Bevölkerung die grösste Gefängnispopulation. Betroffen sind vor allem Schwarze: 7,7 Prozent von ihnen haben ihr Wahlrecht verloren, verglichen mit 1,8 Prozent der nicht-schwarzen Bevölkerung.
Zwar wurde die 233 Jahre alte amerikanische Verfassung mit einer Handvoll Zusätze geändert, um Missstände abzubauen und landesweite Standards einzuführen. So ist mit dem 15. Zusatz seit 1870 festgehalten, dass es verboten ist, einer Person aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihrer Hautfarbe oder ihres früheren Status als Sklave das Wahlrecht zu verweigern. Seitdem benutzten viele Staaten strafrechtliche Verurteilungen – gekoppelt mit der übermässigen polizeilichen Überwachung von nicht-weissen Menschen –, um die politische Macht von Schwarzen, Latinos und Amerikas Ureinwohnern zu unterdrücken.
Nur in zwei Staaten (Maine und Vermont) und im District of Columbia verlieren Menschen hinter Gitter ihr Wahlrecht nicht. In 39 Staaten erhalten Verurteilte ihr Wahlrecht wieder, wenn sie ihre Haft- und Bewährungszeit verbüsst haben. In neun Staaten gilt für Verurteilte ein lebenslängliches Wahlverbot.
Problemfall Florida Im November 2018 hatten die Bürger von Florida mit 64,5 Prozent der abgegebenen Stimmen für eine Änderung der Staatsverfassung gestimmt: Die 1,4 Millionen Ex-Strafgefangenen im Staat – Mörder und Sexualstraftäter ausgenommen – sollten ihr Wahlrecht zurückbekommen. Aber die Republikaner, die in Florida in Repräsentantenhaus und Senat die Mehrheit haben und den Gouverneur stellen, verabschiedeten ein Jahr später ein Gesetz, das den Wählerwunsch praktisch zunichtemachte.
Nur jene Ex-Häftlinge dürfen sich als Wähler registrieren, die die im Zusammenhang mit der verbüssten Strafe stehenden Gebühren und Bussgelder bezahlt haben: Diese Regelung verfügten die Republikaner – wohlwissend, dass die meisten ehemaligen Häftlinge dazu finanziell nicht in der Lage sind. Einer Studie zufolge sind fast 800'000 Ex-Häftlinge betroffen.
Laut der Florida Rights Restoration Coalition (FRRC) haben sich seit der Verabschiedung des Gesetzes vor knapp zwei Jahren bis Anfang September 2020 gut 67'000 Ex-Häftlinge als Wähler registriert, weit weniger als die rund 1,4 Millionen, die nach dem Volkswillen wieder wahlberechtigt gewesen wären. Die FRRC sammelte bei zahlreichen Prominenten und Athleten Geld ein, um die Schulden von Ex-Häftlingen zu begleichen. Der Multimilliardär Michael Bloomberg, der sich um die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten beworben hatte, hat 16 Millionen für das Projekt gesammelt.
Identifikationsgesetze Wer wählen gehen will, sollte sich ausweisen können. Das ist auch in der Schweiz so. In Amerika aber gibt es keine Pflicht, ein Ausweispapier wie ID oder Pass zu besitzen. Und viele Bürger haben auch keinen Fahrausweis. 11 Prozent der US-Bürger, also über 21 Millionen, haben keinen von der Regierung ausgegebenen Ausweis. Besonders häufig können sich Schwarze und andere Minderheiten, arme und alte Menschen den Erwerb eines Ausweises nicht leisten. Überdies sind für den Erhalt einer ID oft lange Anreisen nötig, eine weitere, ebenfalls absichtlich errichtete Hürde für diese Bürger.
Vor allem in republikanisch geprägten Staaten gibt es immer mehr Gesetze, die eine Identifikationskarte zur Voraussetzung für die Stimmabgabe machen. Aktuell sind es 35 der 50 Staaten, in sieben Staaten müssen potenzielle Wähler sogar einen von der dortigen Regierung akzeptierten Lichtbildausweis (ID) vorweisen.
In Wisconsin etwa führten ein striktes ID-Gesetz und andere Massnahmen dazu, dass etwa 200'000 potenziell demokratisch gesinnte Wähler bei den Wahlen am 3. November nicht an die Urnen gelassen werden. Trump gewann Wisconsin 2016 mit einem Vorsprung von weniger als 23'000 Stimmen – bereits damals wurde gemäss Studien die Wahlbeteiligung von zehntausenden Schwarzen und anderen potenziell demokratischen Wählern mit drastischen Gesetzen und Tricks verunmöglicht.
Restriktionen bei der Wählerregistrierung Anders als in der Schweiz und vielen anderen Demokratien sind Bürger über 18 Jahren in den USA nicht automatisch Wähler. Es liegt in der Eigenverantwortung der Bürger, sich registrieren zu lassen, damit sie wählen können. Und so ist die Einschränkung beim Zugang zum Eintrag in ein Wählerregister seit langem einer der gängigsten Wählerunterdrückungsmethoden. Beliebte Einschränkungen: die Vorlage von Dokumenten, mit denen die Staatsangehörigkeit oder Identifikation bewiesen werden kann, schwere Strafen für Registrierungskampagnen oder gern auch ein sehr enges Zeitfenster für die Registrierung.
Bereinigung der Wählerregister Hierbei entfernt die Wahlbehörde Namen von Personen aus den Wählerregistern, die umgezogen, gestorben oder aus anderen Gründen nicht wahlberechtigt sind. Alles legitim. Es kommt jedoch häufig vor, dass Staaten diesen Vorgang nutzen, um zahlreichen Bürgern illegal das Wahlrecht zu entziehen – oft in automatisierten und zuweilen nachweislich fehlerhaften Verfahren.
Mal werden alle Menschen gestrichen, die angeblich nicht mehr im Wahlbezirk leben. Mal werden Tausende Menschen gestrichen, von denen die Behörden grundlos annehmen, sie seien wegen einer Straftat nicht mehr wahlberechtigt. Mal erfolgt eine Streichung ohne erkennbaren Grund. Häufig werden auch falsche Daten verwendet, um Leute aus den Registern zu verbannen.
Überproportional trifft es nicht-weisse Wähler, die häufig demokratisch wählen. 70 Prozent der im Jahr 2018 aus den Wählerregistern des Staats Georgia gelöschten Menschen waren schwarz.
Es kommt nicht selten vor, dass Wähler erst beim Gang an die Urne erfahren, dass ihr Name aus dem Wählerregister gelöscht wurde. Eine Neuregistrierung ist zu diesem Zeitpunkt nicht mehr möglich.
Die Bereinigung der Wählerregister hat einer Studie des Forschungsinstituts Brennan Center for Justice zufolge in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Allein zwischen 2014 und 2016 haben Staaten fast 16 Millionen Wähler aus den Registern gelöscht. Historisch von Rassendiskriminierung geprägte Bezirke, die nicht mehr durch den vom Supreme Court kassierten Absatz 5 des Wahlrechtsgesetz von 1965 von der Entrechtung von Wählergruppen abgehalten werden, löschten der Studie zufolge deutlich mehr Wähler aus ihren Registern. Jeder Staat könne und müsse mehr tun, um «Wähler vor einer vorschriftswidrigen Säuberungsaktion zu schützen», schreibt das Brennan Center.
Erschwerter Zugang zur Wahl Es ist eine effektive Taktik: Wer nicht will, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen zur Wahl gehen, schliesst in deren Gegenden ein paar Wahllokale. Das verlängert die Wege zur Urne. Das erschwert auch die Wahl für Menschen ohne Auto und Zugang zu öffentlichen Transportmitteln.
Eine vergangene Woche veröffentlichte Untersuchung von «Vice News» hat ergeben, dass bei den diesjährigen Wahlen fast 21'000 Wahllokale weniger zur Verfügung stehen. Zwischen 2016 und 2020 sollen 20 Prozent oder 20'818 der Wahllokale geschlossen worden sein. Die Corona-Pandemie habe den Trend zur Briefwahl sowie die Konsolidierung der Wahllokale beschleunigt, aber dieser Trend werde durch gezielte Sparmassnahmen und Wählerunterdrückung verstärkt.
Landesweit haben Bezirke mit einem hohen Anteil an Minderheiten weniger Wahllokale und Wahlhelfer pro Wähler, heisst es bei der US-Bürgerrechtsorganisation ACLU.
Gerrymandering Das sogenannte Gerrymandering (eine Kreation aus dem Namen des Politikers Elbridge Gerry und «Salamander» aus dem Jahr 1812) ist ein altbewährtes Mittel zur Verzerrung des Wählerwillens. Bei dieser in den USA eigentlich illegalen Wahlkreisgeometrie werden erstens Hochburgen der Opposition in möglichst wenigen Wahlkreisen zusammengefasst und zweitens eine Vielzahl von Wahlkreisen konstruiert, in denen die eigene Partei vorne liegt.
Die Bezirke werden alle zehn Jahre basierend auf bei der Volkszählung gesammelte Daten neu gezogen. Eigentlich sollen damit Bevölkerungsveränderungen und ethnische Vielfalt dargestellt werden. Häufig ist die Neueinteilung von Wahlbezirken aber ein politisches Werkzeug, um den Wahlausgang zu manipulieren, und unterdrückt die Stimmen von Millionen von Wählern.
Helene Laube ist Journalistin in San Francisco. Von 2000 bis zum Ende der «Financial Times Deutschland» 2012 war sie Silicon-Valley-Korrespondentin der Wirtschaftszeitung. Sie ist Gründungsmitglied der FTD. Davor war sie Redakteurin beim «Manager Magazin» in Hamburg. Ihre Artikel sind zudem in Medien wie «Financial Times», «Spiegel», «Los Angeles Times», «Zeit», «Stern«, «brand eins» und «Neue Zürcher Zeitung» erschienen.