Vorsitz im UNO-Sicherheitsrat «Die Schweiz verliert politisches Kapital, auch für die Zukunft»

Von Andreas Fischer

1.5.2023

Die Schweiz hat im Januar ihre zweijährige Arbeit im UNO-Sicherheitsrat aufgenommen. Am Hauptsitz der Vereinten Nationen in New York wurden die Flaggen der Schweiz und der anderen neuen nicht ständigen Mitglieder des höchsten UNO-Gremiums gesetzt.
Die Schweiz hat im Januar ihre zweijährige Arbeit im UNO-Sicherheitsrat aufgenommen. Am Hauptsitz der Vereinten Nationen in New York wurden die Flaggen der Schweiz und der anderen neuen nicht ständigen Mitglieder des höchsten UNO-Gremiums gesetzt.
Bild: Keystone/EPA/Justin Lane

Seit Januar sitzt die Schweiz erstmals im UNO-Sicherheitsrat und übernimmt im Mai den Vorsitz. Völkerrechtler Andreas Müller erklärt, was auf die Schweiz zukommt – und wieso die Neutralität zu Problemen führt.

Von Andreas Fischer

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Die Schweiz übernimmt im Mai den Vorsitz im UNO-Sicherheitsrat.
  • Die bisherige Arbeit wird von den internationalen Partnern geschätzt, sagt Völkerrechtler Andreas Müller von der Uni Basel im Interview mit blue News.
  • Mit ihrer Neutralitätsauslegung und der Weigerung, Waffenexporte für die Ukraine zu erlauben, verbaut sich die Schweiz aber politisch die Zukunft, schätzt der Experte ein.

Der Sicherheitsrat ist das wichtigste Organ der Vereinten Nationen. Er entscheidet über Krieg und Frieden, entsendet Blauhelmsoldaten und stimmt über Sanktionen ab, die bei Verstössen gegen das Völkerrecht verbindlich gegen einen Mitgliedsstaat angewendet werden können.

Hinweis zur Transparenz

Dieses Interview erschien am 22. April zum ersten Mal. Aus aktuellem Anlass erscheint es noch einmal. 

Seit Januar ist die Schweiz erstmals Mitglied des mächtigen Gremiums und übernimmt am 1. Mai turnusmässig die Präsidentschaft. Völkerrechtler Andreas Müller von der Uni Basel erklärt im Interview mit blue News, wie die Schweiz von den Partnern wahrgenommen wird, was sie gut macht und wo es in Zukunft Probleme geben könnte.

Die Kandidatur für den UNO-Sicherheitsrat war umstritten: Wie schlägt sich denn die Schweiz bislang in dem Gremium?

Zur Person
zVg

Andreas Müller ist Professor für Europarecht, Völkerrecht und Menschenrechte an der Universität Basel. Ein Schwerpunkt seiner Forschungsarbeit sind die Rechtsbeziehungen zwischen der Schweiz und der EU und anderen internationalen Organisationen.

Um längerfristige Folgen der Arbeit abzuschätzen, ist es nach vier Monaten noch zu früh. Kommt hinzu: Der UNO-Sicherheitsrat ist ein Organ, das nicht besonders transparent arbeitet. Es gibt zwar eine Website, auf der die Resolutionen veröffentlicht werden. Was seine eigentliche Arbeit betrifft, ist der Sicherheitsrat jedoch sehr nach innen gekehrt. Das schränkt natürlich die Möglichkeit ein, die Arbeit der Schweiz substanziell zu bewerten.

Mein Eindruck ist jedoch: Die Schweiz macht ihre Arbeit, soweit erkennbar, gut, und zwar genauso professionell, wie es von einem so erfahrenen und routinierten Akteur auf dem internationalen Parkett erwartet werden darf.

Von Lampenfieber also keine Spur?

Es ist nicht so, dass die Schweiz mit dem Sitz im Sicherheitsrat ganz neu auf der internationalen Bühne erscheint. Man hat die lange Vorbereitungszeit der Kandidatur gut genutzt. Zudem ist die Schweiz auf vielfältige Weise bilateral engagiert und als Sitzstaat zahlreicher internationaler Organisationen renommiert.

Wie unterscheidet sich die Arbeit im UNO-Sicherheitsrat von anderen diplomatischen Missionen?

Mein Eindruck ist, dass die Bundesverwaltung extrem beschäftigt ist. Die Arbeit im Sicherheitsrat bringt eine irrsinnige Taktung von täglichen Sitzungen auf allen Ebenen mit sich, auf die man sich vorbereiten muss. Die Herausforderung ist es, Schritt zu halten. Man hat im Moment nicht viel Zeit, zu reflektieren.

Es ist vieles hektisch, weil beim Sicherheitsrat immer alles hektisch ist und der Zeitdruck gross. Wenn etwas passiert auf der Welt wie jetzt im Sudan, dann stellt sich gleich die Frage nach der Haltung des Sicherheitsrates. Zwar könnte die Schweiz sagen, dass sie sich zwei Wochen innenpolitisch koordinieren muss, weil es eine wichtige Frage ist. Allerdings wird sich der Sicherheitsrat in dieser Zeit schon lange positioniert haben.

Weil Sie die Erfahrung auf der internationalen Bühne angesprochen haben: Welches politische Gewicht hat die Schweiz international wirklich?

Man hatte international fast schon darauf gewartet, dass sich die Schweiz um einen Sitz im Sicherheitsrat bemüht. Im Ausland wurde die Kandidatur von allen Seiten begrüsst. Die Arbeit der Schweiz im Sicherheitsrat passt international jedenfalls ins Bild und ist eine konsequente Fortsetzung ihrer aussenpolitische Rolle der letzten Jahrzehnte.

Am politischen Ansehen der Schweiz ändert die zweijährige Mitgliedschaft im Sicherheitsrat allerdings fundamental nichts. Sie ist eher eine Besiegelung ihres Status und eine logische Folge ihres eigenen Anspruchs, international eine wichtige Rolle zu spielen. Ein Anspruch, der auf der geschichtlichen Entwicklung und auch aus dem verfassungsrechtlichen Auftrag gründet. Die Bundesverfassung schreibt vor, dass sich die Schweiz für eine gerechte multilaterale internationale Ordnung einsetzen soll.

Von den internationalen Partnern wird die Arbeit der Schweiz im Sicherheitsrat geschätzt, aber wie sieht es in Bern aus?

Politisch werden bei der Bewertung der Arbeit in Bern dieselben Argumente genannt, die schon vor der Wahl in den Sicherheitsrat erkennbar waren: Kritische Stimmen benennen die Probleme wie mangelnde Koordination mit dem Parlament und den Zeitdruck, der in gewisser Weise unschweizerisch ist. Die Befürworter betonen die Chancen und Potenziale, und dass die Arbeit der Schweiz bei den Partnern positiv aufgenommen wird.

Im Mai übernimmt die Schweiz für einen Monat die Präsidentschaft über den Sicherheitsrat: Was kommt dadurch auf die Schweiz zum ohnehin hohen Pensum hinzu?

Es ist noch mehr Koordinationsarbeit gefordert. Denn mit dem Vorsitz im Sicherheitsrat ist es nicht getan: Die Schweiz wird während ihrer Präsidentschaft auch in den zahlreichen unter- und nebengeordneten Gremien stärker gefordert sein.

Hat die Schweiz dann auch mehr zu sagen?

Die Präsidentschaft im Sicherheitsrat ist nicht mit einer zusätzlichen Machtfülle verbunden. Die Strukturen im Sicherheitsrat, wenn es um geopolitische Fragen geht, sind vorgefasst. Selbst wenn man extrem geschickt und klug agiert, kann man sie nicht innerhalb eines Monats ändern. Möglich ist allerdings, Diskussionen zu lenken: zum Beispiel über die Zulassung von Wortmeldungen.

Ein paar Steuerungsmöglichkeiten hat die Schweiz also?

Die Präsidentschaft bedeutet – vor allem für nicht ständige Mitglieder – eine Art Themenführerschaft. Die Schweiz kann gewisse Debatten in den Mittelpunkt stellen und zur Bewusstseinsbildung beitragen. Sie hat Prioritäten benannt, die sie in ihrer Zeit im Sicherheitsrat besonders voranbringen will: Das ist zum einen der Schutz der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten und zum anderen die Friedensförderung.

Die Schweiz wird diese Themen relativ rasch nach Beginn ihrer Präsidentschaft in den Mittelpunkt stellen und versuchen, konkrete Initiativen voranzutreiben, die in eine Resolution des Sicherheitsrates münden können. Um noch mal zur Bewertung der Arbeit im Sicherheitsrat zurückzukommen: Ich würde am Ende der Mitgliedschaft schauen, ob und wie es die Schweiz geschafft hat, solche Spezialresolutionen auf den Weg zu bringen, und wie stark sie sind.

Schafft es die Schweiz, den ständigen Mitgliedern Zugeständnisse zu entlocken? Kann sie bewirken, dass sich das Recht fortentwickelt? Das würde auch ihrer grundsätzlichen Position entsprechen: Die Schweiz tritt für eine starke internationale Ordnung ein, die den grossen Mächten Regeln vorgibt.

Die Schweiz löst im Mai ausgerechnet Russland von der Präsidentschaft ab: Wie arbeitet man mit einem Land zusammen, das offensichtlich gegen die UNO-Charta verstösst und mit seiner Vetomacht den Sicherheitsrat in der Ukraine-Frage blockiert?

Die Spannungen sind sicherlich gross und wirken sich auch auf die alltägliche Arbeit aus. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass Pascale Baeriswyl, die Chefin der Ständigen Vertretung der Schweiz bei der UNO, jeden Morgen mit ihrem russischen Kollegen beim Kaffee zusammensitzt.

Es ist im Moment also eine schizophrene Situation, beziehungsweise eine ambivalente, wie es Diplomaten ausdrücken würden. In den wirklich grossen geopolitischen Fragen, wie dem Krieg in der Ukraine, setzt sich Russland ohnehin nicht ernsthaft mit der Schweiz auseinander, höchsten mit den USA und China oder Frankreich und Grossbritannien.

Auf der anderen Seite arbeitet der Sicherheitsrat ganz normal sein Programm ab: zum Beispiel, wenn es um Fragen zum Sudan, zu Afghanistan oder Lateinamerika geht. Bei diesen Themen braucht man Russland und verhandelt ständig mit dem Land. Auch wenn die geopolitische Situation diese Fragen überlagert.

Es hat freilich immer schon internationale Krisen und Völkerrechtsverletzungen gegeben …

Der Krieg gegen die Ukraine ist aber selbst für die UNO eine neue Dimension in der Weltordnung nach 1945. Das wirkt sich natürlich auch auf den Sicherheitsrat aus. Russland ist in diesem Gremium isoliert, auch, weil die Generalversammlung sich immer wieder klar gegen den Krieg positioniert hat.

Immerhin aber ist der Sicherheitsrat noch eines der wenigen internationalen Foren, an denen sich Russland noch aktiv beteiligt. Viele wichtige europäische Organisationen wie der Europarat oder die OECD haben die russische Beteiligung formal oder de facto verloren.

Aussenpolitisch weht der Schweiz in den vergangenen Wochen und Monaten ein kräftiger Wind entgegen: Wie wird die strikte Haltung im Hinblick auf Waffenlieferungen für die Ukraine international wahrgenommen?

Mein Eindruck ist, dass die Reaktionen auf der globalen Ebene gemischt sind. Russland hat sicher nichts gegen die harte Schweizer Haltung, wenn es um Waffenlieferungen geht. Der Kreml kritisiert die Schweiz eher dafür, dass sie sich den Sanktionen angeschlossen hat, und sieht darin eine Neutralitätsverletzung.

Dann gibt es den Westen, vor allem die europäischen Partner: Hier hat die Schweizer Haltung durchaus ernsthafte Folgen. Ich glaube auch, dass die Konsequenzen in der Schweiz unterschätzt werden. Man scheint zu glauben, die Karawane ziehe weiter, und in drei Jahren könne man dann so tun, als wäre nichts gewesen. Mein Eindruck ist jedoch, dass sich die Schweiz gerade die Zukunft verbaut, weil sie loyale und wohlwollend eingestellte Leute in vielen Nachbarländern verprellt.

Welche Auswirkungen hat die Weigerung, Waffenexporte zu erlauben, auf die Arbeit und Glaubwürdigkeit im UNO-Sicherheitsrat?

Die Schweiz wird von ihrer Neutralitätsauslegung im Sicherheitsrat nicht eingeschränkt. Dort haben die Mitgliedstaaten so viele gemeinsame Interessen, dass sie ohnehin zusammenarbeiten wollen und müssen.

Die Schweizer Haltung ist eher ein Thema in der Europapolitik und in den Beziehungen zu den westlichen Partnern. Der Druck kommt diesbezüglich eher von der EU-Seite oder aus den USA. Bei der UNO hingegen ist das Verständnis gross, dass jedes Land seine eigenen Themen hat.

Zum Beispiel haben die Staaten des Globalen Südens überhaupt kein Problem mit der Schweiz. Diese haben selbst den Angriff auf die Ukraine zwar verurteilt, bremsen bei weiterführenden Schritten gegen Russland aber eher.

Bundespräsident Alain Berset betonte kürzlich mit Blick auf Kritik aus Europa und von den G7-Staaten, die Schweiz ist ein souveräner Staat und macht ihre Gesetze selber …

Er sagte auch, man könne Gesetze prüfen und allenfalls ändern, wenn es angemessen ist. Die Replik aus Deutschland war sinngemäss: «Was muss denn nach einem gross angelegten Angriff auf einen europäischen Staat noch passieren, damit der Nachdenkprozess wirklich ausgelöst wird?»

Man hat in Deutschland den Eindruck, dass Bern diese Frage politisch aussitzen will und darauf hofft, dass sich die Situation in einigen Monaten selbst auflöst. Den europäischen Partnern bleibt nichts übrig, als zur Kenntnis zu nehmen, dass der politische Wille zu einer Änderung in der Schweiz nicht vorhanden ist.

Wie sehen Sie die Chancen, dass die entsprechenden Gesetze in der Schweiz geändert werden?

Der Druck von aussen auf die Schweiz ist kontinuierlich und stark. Er wird sicher nicht kleiner. Mein Eindruck ist, dass er sich eher verstärkt. Ob der Druck zu einer Änderung der Neutralitätsauslegung führt oder zu einer Trotzreaktion, ist unklar. Diese Prognose würde ich anderen überlassen. Formal jedenfalls kann, wie Alain Berset sagte, niemand die Schweiz zwingen, ihre Gesetze zu ändern. Aber: Man verliert derzeit politisches Kapital, auch für die Zukunft.

Kann sich die Schweiz ihre Neutralitätsdefinition in diesen Zeiten überhaupt noch leisten?

Die Schweiz hat völkerrechtliche Verpflichtungen aus der Neutralität, und die Schweiz hat völkerrechtliche Verpflichtungen aus der Mitgliedschaft in der UNO. Diese Verpflichtungen stehen nicht im Widerspruch miteinander. Das belegen zum Beispiel bündnisfreie Länder, die ihre Neutralität anders interpretieren: etwa Österreich, Irland und bis vor Kurzem auch Finnland und Schweden.

Das aktuelle Thema mit dem Verbot des Weiterverkaufs von Schweizer Waffen und Munition ist weitgehend selbst gemacht. Das völkerrechtliche Konzept der Neutralität wurde über die Jahrzehnte derart aufgeweicht, dass es eigentlich nur noch wenige harte Vorgaben gibt.

Was zurzeit diskutiert wird, ist also weniger völkerrechtlich ein Problem, als eher einem Neutralitätsverständnis geschuldet, das sich die Schweiz immer nach Bedarf zurechtgezimmert hat. Wir erleben also weniger ein völkerrechtliches Problem als vielmehr ein Problem des innerstaatlichen Schweizer Rechts und des politischen Willens, es zu ändern: Natürlich darf die Schweiz als souveräner Staat die Neutralität so leben, wie sie es für richtig hält. Sie muss allerdings auch die politischen Folgen tragen.