Kriegsverbrechen «Für eine Verurteilung müsste Putin erst entmachtet werden»

Von Lia Pescatore

22.4.2022

Ukraine: Auf Rückkehrer warten Minen und Sprengfallen

Ukraine: Auf Rückkehrer warten Minen und Sprengfallen

Nach und nach kehren geflüchtete Ukrainer in ihre Heimatdörfer um Kiew zurück. Damit gehen sie allerdings ein grosses Risiko ein. Denn die russischen Truppen sind zwar abgezogen, zurückgelassen haben sie aber Raketen, Minen und Sprengfallen. AFPTV

21.04.2022

Strafrechtler Stefan Trechsel glaubt kaum, dass Putin vor Gericht gestellt wird: «Macht kommt vor Recht.» Trotzdem erachtet er die Arbeit des Internationalen Strafgerichtshofs als essenziell. Er hat selbst als Richter am Jugoslawien-Tribunal geurteilt. 

Von Lia Pescatore

Die Bilder der Gräueltaten von Butscha und Kramatorsk gingen um die Welt, insbesondere über die sozialen Medien. Welchen Einfluss haben die sozialen Medien und das Internet auf die Arbeit der Ermittler?

Eine völlige Abschirmung der Richter, aber auch der anderen Beamten und Mitarbeitenden eines Gerichts, ist nicht möglich. Die Aufgabe der Richter ist es dann, von alledem Abstand zu nehmen und ihre Entscheidung nur noch darauf abzustützen, was ihnen in der Verhandlung vor Gericht dargelegt wird. Das heisst auch, dass den Beweismitteln die entscheidende Bedeutung zukommt. Die Anklagebehörde muss davon ausgehen, dass die Richter nichts wissen, ausser dem, was ihnen vor Gericht vorgetragen wird. Darum ist es sehr wichtig, dass alle Fakten mit Beweisen belegt werden.

Welches sind denn die besten Beweismittel?

Stefan Trechsel
zVg

Der fast 85-Jährige war als ordentlicher Professor für Straf- und Strafprozessrecht an den Universitäten St. Gallen und Zürich tätig. Er präsidierte zwischen 1995 und 1999 die Europäische Menschenrechtskommission und urteilte von 2006 bis 2013 als Ersatzrichter am Internationalen Ex-Jugoslawien-Tribunal. 

Hauptbeweismittel sind immer noch die Zeugen. Menschen, die die Vorfälle miterlebt oder beobachtet haben oder die von anderen Person Berichte über das Geschehen gehört haben, nämlich von Augen- oder Ohrenzeugen, die verhindert sind, selber auszusagen, zum Beispiel, weil sie bereits verstorben ist. Sehr wertvoll sind aber auch Handyaufzeichnungen, zum Beispiel von Gesprächen, da diese Aufnahmen sehr überzeugend sind und direkt zu den Ermittlern gelangen, also nicht über Beteiligte, die sie hätten verfälschen können.

Dann folgen Beweismittel wie Fotos oder Videos, Tonaufnahmen. Akten könnten ebenfalls eine Rolle spielen, wie zum Beispiel Einsatzbefehle, Mannschaftslisten oder Tagesberichte. Die Deutschen haben im Zweiten Weltkrieg sehr akribisch Buch geführt, darum konnte man viel Aktenmaterial verwenden, es erleichterte die Arbeit des Gerichts. In der Ukraine dürfte das weniger der Fall sein.

«Meine Zeit am Ex-Jugoslawien-Tribunal hat mir eindrücklich gezeigt, wie wertvoll die Methode des Kreuzverhörs ist, um die Wahrheit zu ermitteln.»

Das Sammeln von Beweisen ist bereits im vollen Gange, die Ukraine hat dafür eine Website erstellt. Was passiert mit all diesen Daten?

Zunächst müssen sie an die zuständige Behörde gelangen. Die prüft zuerst, ob das Material authentisch und richtig ist. Bei Zeugen erfolgt die Befragung im Gericht immer zweiseitig, durch die Anklage und die Verteidigung. Diese kann auch eigene Zeugen vorbringen. Meine Zeit am Ex-Jugoslawien-Tribunal hat mir eindrücklich gezeigt, wie wertvoll diese Methode des Kreuzverhörs ist, um die Wahrheit zu ermitteln. Überhaupt ist von grösster Wichtigkeit, dass die Verteidigungsrechte skrupulös respektiert werden.

Aus der Ukraine werden auch Fälle von Vergewaltigungen gemeldet. Wo sind die Schwierigkeiten, solche Straftaten aufzuklären?

Die Schwierigkeit liegt vor allem darin, dass Frauen oft ungern über solche Erfahrungen sprechen. Viele wollen gar nicht mehr mit solch schrecklichen Erfahrungen konfrontiert werden. Für eine Aufklärung ist die Kooperation des Opfers aber essenziell. Wenn das Opfer sich bereit erklärt, gibt es gynäkologische Untersuchungen und DNA-Erhebungen, die allenfalls auf einen Täter hinweisen können. Gerade die Analyse der DNA würde den Zugang zu einem Täterprofil ermöglichen, zum Beispiel zu Informationen über die Abstammung. Doch das ist noch nicht zugelassen.

Wo liegen die Schwierigkeiten in der Beweisführung allgemein?

Die grösste Schwierigkeit ist nicht zu beweisen, was passiert ist, sondern, wer dafür verantwortlich ist, gerade wenn es nicht um die Ausführenden, sondern die Befehlsgebenden geht. Auch am Prozess am Ex-Jugoslawien-Tribunal konnte zwar ein grosser Teil der angeklagten Kommandanten verurteilt werden, doch nicht alle. Das Gericht muss abklären, ob es neben der Erklärung der Anklage auch eine andere plausible Begründung für das Geschehen gibt. Dazu gehört auch ein gewisses Mass an Spekulation. Erscheint zum Schluss auch ein anderes Szenario plausibel, dann ist der Beweis misslungen.

«Eine Verurteilung ist auch möglich, wenn ein direkter Befehl nicht nachgewiesen werden kann.»

Haben sie ein konkretes Beispiel?

Wir hatten Fälle, wo in einer Ortschaft eine Moschee gesprengt worden war. Es lag nahe, dass im Ort befindliche, von der Anklage angeschuldigte Kroaten für die Sprengung verantwortlich waren. Aber in diesem Dorf wohnten auch Muslime. Es liess sich nicht stichfest ausschliessen, dass solche Muslime zur Provokation selbst die Moschee gesprengt hatten, um die Tat dann den Kroaten in die Schuhe zu schieben. Da uns dieses Szenario ebenfalls plausibel erschien, wurden die Kroaten schlussendlich freigesprochen, obwohl sie mit grösserer Wahrscheinlich den Angriff verübt hatten.

Ist das nicht schwierig nachzuvollziehen für die Betroffenen?

Nein, das glaube ich nicht. Es handelt sich um ein umfassendes Verfahren, insgesamt hat das Urteil in unserem Verfahren, einem von vielen des Ex-Jugoslawien-Tribunal, über 2'600 Seiten. Die Begründung ist also eingehend. Aber manche werden es schwierig finden, den Grundsatz «im Zweifel für den Angeklagten» gelten zu lassen.

Was muss geschehen, dass auch ein Staatspräsident für ein Verbrechen der Truppen verurteilt werden kann?

Dafür braucht es den Nachweis, dass der Präsident Kenntnis hatte von diesen Vorfällen. Am deutlichsten ist dies der Fall, wenn er die Taten selbst angeordnet hat. Doch eine Verurteilung ist auch möglich, wenn ein direkter Befehl nicht nachgewiesen werden kann. Der Präsident ist wie auch alle übrigen Kommandanten verpflichtet, Kriegsverbrechen zu verhindern. Wenn solche Verantwortliche die Möglichkeit, Kriegsverbrechen zu stoppen, nicht wahrnehmen, dann können sie auch für dieses Unterlassen verurteilt werden.

«Wichtig sind alle Verfahren, aber das Schwergewicht liegt sicher bei der Internationalen Gerichtsbarkeit.»

Konnte jemals ein Präsident wegen verletzter Kommandantenpflicht verurteilt werden?

Ein Präsident wurde meines Wissens noch nie verurteilt. Im Fall des jugoslawischen Ex-Präsidenten Slobodan Milosevic wäre es nach allgemeiner Meinung wohl zu einer Verurteilung gekommen, er war am Verfahren beteiligt. Aber er hat sich durch seinen Tod dem Urteil entzogen und blieb damit formell unschuldig. Eine Verurteilung wegen unterlassener Kommandopflicht auf anderen Stufen ist jedoch juristisch nichts Ungewöhnliches.

Das Urteil welches Gerichtshofs hätte die grösste Wirkung?

Ich halte die Arbeit vom Internationalen Strafgericht für wichtig und essenziell. Das ist das Gericht, das alle führenden Persönlichkeiten in einem solchen Fall beurteilen sollte. Die nationale Justiz hingegen wird eher am Rand tätig. Im nationalen Bereich geht es häufig, aber durchaus nicht immer, um Verfahren gegen Staatsangehörige jenes Staates, der das Verfahren durchführt. Wichtig sind alle Verfahren, aber das Schwergewicht liegt sicher bei der Internationalen Gerichtsbarkeit.

Russland und die Ukraine anerkennen den Internationalen Gerichtshof nicht: Ginge das Urteil dann überhaupt über eine Signalwirkung hinaus?

Ja, denn wenn ein internationales Gericht ein Urteil fällt, dann ist es rechtsgültig. Wie wirksam das Urteil ist, ist jedoch eine andere Frage. Das Statut des Internationalen Strafgerichtshof für Ex-Jugoslawien enthält zum Beispiel Regeln für die Vollstreckung der Urteile. Die vom Gericht verhängten Strafen werden auch wirklich vollzogen. Das hat insgesamt gut funktioniert.

Mit Russland haben wir es mit einem mächtigen Staat zu tun. Welche Rolle spielt die Politik im Gerichtsverfahren?

Im Ukraine-Russland-Konflikt wird die Politisierung klar viel massiver ausfallen als im Fall von Ex-Jugoslawien. Damals war sich die Welt einig darüber, dass Kriegsverbrechen begangen wurden und diese auch bestraft werden müssen. Im Ukraine-Russland-Konflikt ist es viel schwieriger, weil Russland alle Schuld und Verantwortlichkeit abstreitet und sein eigenes Vorgehen als legitim erachtet.

«Damit es zu einer Verurteilung von Präsident Putin kommen könnte, müsste schon die russische Föderation zusammenbrechen oder Putin entmachtet werden.»

Die Politik könnte also auch Urteile verhindern?

Ja, es ist in diesem Fall schwieriger, einen politischen Konsens zu finden, obwohl klar Völkerverbrechen vorliegen. Einerseits besitzt Russland das Vetorecht im UNO-Sicherheitsrat, andererseits kann man auch China nicht trauen, wenn es um die Durchsetzung des Rechts geht. Dem Recht kommt insgesamt weniger Bedeutung zu. Macht kommt vor Recht. Ob etwas geschieht, ist abhängig von Machtverhältnissen. Unter diesem Gesichtspunkt sieht es im Ukraine-Russland-Konflikt schwierig aus.

Wird es Ihrer Meinung nach überhaupt Verurteilungen geben?

Ich glaube kaum, dass es bei diesem grossen politischen Widerstand überhaupt zu Urteilen der Internationalen Gerichtsbarkeit kommen wird. Russland müsste sich überhaupt erst auf ein Strafverfahren einlassen. Das ist sehr unwahrscheinlich bei den jetzigen Machtverhältnissen. Damit es zu einer Verurteilung von Präsident Putin kommen könnte, müsste schon die russische Föderation zusammenbrechen oder Putin entmachtet werden.

Welchen Beitrag können Nationalstaaten wie die Schweiz leisten bei der Aufklärung der Kriegsverbrechen?

Wenn ein Verdächtigter in der Schweiz auftaucht, der zum Beispiel in der Ukraine von Anwälten angeklagt wird, dann kann die schweizerische Justiz die Person verfolgen und verurteilen und eine allfällige Strafe auch vollstrecken. Das hat es in der Geschichte der Schweiz schon gegeben, darum halte ich das nicht für illusorisch.