Die Mullahs bluffen «Die Abschaffung der Sittenpolizei ist ein Ablenkungsmanöver»

Von Andreas Fischer

5.12.2022

Sittenpolizei im Iran ist aufgelöst worden

Sittenpolizei im Iran ist aufgelöst worden

Mehr als zwei Monate nach Beginn der Proteste im Iran ist die Sittenpolizei nach Justizangaben aufgelöst worden. Sie war 2006 unter dem ultrakonservativen Staatschef Mahmud Ahmadineschad gegründet worden und kontrollierte unter anderem die Einhalt

04.12.2022

Die berüchtigte Sittenpolizei im Iran soll abgeschafft werden. Trotz dieses vermeintlichen Erfolgs bleibt die Protestbewegung gegenüber dem Regime skeptisch – aus gutem Grund, wie Iran-Kenner sagen.

Von Andreas Fischer

Nach mehr als zweieinhalb Monaten Volksaufstand im Iran hat die politische Führung unerwartet Massnahmen angekündigt. Dem Generalstaatsanwalt zufolge soll die Sittenpolizei aufgelöst werden: So vermeldeten es iranische Medien am Wochenende.

Doch stehen die umstrittenen Moralwächter wirklich vor dem Aus? Oder ist die Ankündigung nur eine Nebelpetarde des Regimes?

Zur Erinnerung: Die aktuellen Proteste im Iran wurden durch den Tod der 22-jährigen Mahsa Amini ausgelöst. Die junge Frau war verhaftet worden, weil unter ihrem Kopftuch Haarsträhnen hervorgeschaut haben sollen. Das wurde ihr als Verstoss gegen die Kopftuchpflicht ausgelegt. Amini starb wenige Tage später in Gewahrsam der Sittenpolizei.

Die bekannte iranische Menschenrechtsaktivistin Atena Daemi vermutet, dass die Meldung «Sittenpolizei abgeschafft» in Wahrheit bloss «die Revolutionäre  hinters Licht führen soll. Zumal bereits verkündet wurde, dass die Kontrollen im Land weitergehen sollen.»

Verschnaufpause vor den nächsten Repressionen

Die Sittenpolizei, die sogenannte Gascht-e Erschad (Moralstreife), setzte seit 2005 als Sondereinheit der Polizei die islamischen Kleidungsvorschriften durch. Dass sie aufgelöst werden soll, wurde von vielen Medien weltweit «nahezu euphorisch» verbreitet, wie der renommierte deutsch-iranische Politologe Ali Fathollah-Nejad verwundert feststellt. Dabei sei die Ankündigung nicht mehr als ein Beschwichtigungs- und Ablenkungsmanöver, glaubt er. Nicht einmal einen rechtsverbindlichen Entscheid gebe es bisher.

In einem ausführlichen Beitrag erklärt Fatollah-Nejad auf Twitter, was die Mullahs wirklich bezwecken könnten. Der Iran-Experte vermutet, dass die Sittenpolizei temporär aus dem Blickfeld genommen werden soll. Dafür gebe es verschiedene Gründe.

Einerseits will das Regime laut dem Experten verhindern, dass weitere Bilder von brutalen Festnahmen um die Welt gehen. Ausserdem seien die Sicherheitskräfte seit Mitte September im Dauereinsatz und dementsprechend erschöpft. Das Regime wolle ihnen eine Verschnaufpause verschaffen, bevor sie weitere, härtere Repressionen durchsetzen, schätzt Fatollah-Nejad. Dies auch vor dem Hintergrund einer dreitägigen landesweiten Protestaktion, die bis Mittwoch mit Demonstrationen und Streiks das islamische System wirtschaftlich hart treffen dürfte.

Dazu kommt, dass die Arbeit der Moralwächter mithilfe von Überwachungskameras und Gesichtserkennungssoftware digitalisiert werden solle. Die Einhaltung der Kleidervorschriften werde im Iran weiterhin überwacht.

Einen Teilerfolg für die Frauenbewegung, wie ihn einige Beobachter in der angekündigten Auflösung der Sittenpolizei sehen, kann Fatollah-Nejad nicht erkennen. Er warnt davor zu vergessen, «dass der strenge Hijab/Kleiderkodex ein unverzichtbarer Pfeiler der Islamischen Republik ist, der untrennbar mit ihrer Identität verbunden ist.»

Das Regime will Zeit schinden

Ohne eine Aufhebung des vor mehr als 40 Jahren verhängten Kopftuchzwangs für die iranischen Frauen ist dieser Schritt sinnlos, sagt auch Politologe Abbas Abdi. «Die Auflösung der Sittenpolizei war notwendig, reicht aber nicht aus, bis das Gesetz der obligatorischen Kleidervorschrift revidiert ist», so sein Kommentar auf Twitter.

Der Politik- und Islamwissenschaftler Mahdi Rezaei-Tazik von der Uni-Bern glaubt: «Das Regime steht vor dem Zusammenbruch.» Es wolle mit der Auflösung der Sittenpolizei Zeit schinden, wie er bei «20 Minuten» erklärt.  Die Massnahme solle so wirken, als würde man der Protestbewegung entgegenkommen, sei aber scheinheilig, weil das Regime weiterhin Protestierende foltert.

Auch Rezaei-Tazik widerspricht der Einschätzung, dass die Auflösung der Sittenpolizei ein Erfolg sei. «Bevor das islamische Regime die Führung im Iran übernommen hat, konnten sich Frauen so kleiden, wie sie wollten. Mit Aufhebung der Sittenpolizei hat man theoretisch nur wieder hergestellt, was früher ganz normal war.»

Mit Material der Nachrichtenagentur Keystone-SDA.

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