US-Schulmassaker «Dein ganzes Leben verliert in diesem Moment seinen Sinn»

Von Oliver Kohlmaier

25.5.2022

Gustavo Garcia Seller (r), Erzbischof von San Antonio, tröstet Familien vor dem Civic Center. Dort mussten viele Eltern stundenlang auf Nachrichten zu ihren Kindern warten.
Gustavo Garcia Seller (r), Erzbischof von San Antonio, tröstet Familien vor dem Civic Center. Dort mussten viele Eltern stundenlang auf Nachrichten zu ihren Kindern warten.
Dario Lopez-Mills/AP/dpa

Das Schulmassaker im texanischen Städtchen Uvalde schockiert die USA, einmal mehr wird heftig über die Waffengesetze gestritten. Nicht nur betroffene Eltern fragen sich nun, was noch passieren muss.

Von Oliver Kohlmaier

25.5.2022

Newtown, Parkland und nun Uvalde. Eigentlich sollten Schulen die sichersten Orte für Kinder sein. In den USA jedoch werden sie mit trauriger Regelmässigkeit zum Schauplatz schrecklicher Massaker.

Sie lassen Eltern zurück, die ihr Leben lang mit dem Verlust ihrer Kinder umgehen müssen, sowie Väter und Mütter, die sich täglich sorgen um die Sicherheit ihrer Liebsten.

Eine Gewalttat wie jetzt an der Robb Elementary School im kleinen texanischen Städtchen Uvalde sprengt auch im Land der ständigen Schiessereien alle Grenzen — wie schon damals beim bisher schlimmsten US-Massaker an der Sandy-Hook-Schule in Newtown.

Schlimmste anzunehmende Katastrophe

Statt ihre Söhne und Töchter wenige Tage vor Beginn der Sommerferien von der Schule abzuholen, müssen sie nun DNA-Proben abgeben, um ihre geliebten Kinder zu identifizieren. Es ist die schlimmste anzunehmende Katastrophe für Eltern.

«Ein Kind zu verlieren, ist, als wenn einem ein Stück der eigenen Seele entrissen wird», sagt Joe Biden im Weissen Haus. Es sei, als ob man ersticke.

Dann spricht der Präsident — er selbst verlor zwei Kinder — ergriffen über eine Epidemie an Waffengewalt, «irrsinnige» Waffengesetze und jahrzehntelange Untätigkeit. «Ich habe es satt», sagt er. «Wir müssen handeln.» 

Biden sagt Waffenlobby nach Texas-Massaker den Kampf an

Biden sagt Waffenlobby nach Texas-Massaker den Kampf an

Nach dem Schulmassaker in Texas hat der sichtlich erschütterte US-Präsident Joe Biden dazu aufgerufen, die Waffengesetze zu verschärfen. Es sei Zeit, zu handeln, sagte Biden in einer Ansprache aus dem Weissen Haus.

25.05.2022

Eltern mussten Stunden warten

Die Grundschule war nach der Attacke abgeriegelt und von Einsatzfahrzeugen umgeben. Auf Fernsehbildern war zu sehen, wie Krankentragen aus dem Gebäude gerollt wurden. Eltern irrten auf der Suche nach ihren Kindern durch das Gelände.

Laut Medienberichten versuchten manche offenbar auch, ihre Kinder in Sicherheit zu bringen, wurden aber von Polizist*innen daran gehindert, da noch nicht sicher war, ob es weitere Täter gab.

Mehr als zwölf Stunden nach der Tat gab es noch immer Angehörige, die im Unklaren waren über den Verbleib von Schüler*innen. Auf TV-Bildern war zu sehen, wie Eltern in der Schlange am Civic Center warteten.

Menschen warten vor dem Civic Center in Uvalde.
Menschen warten vor dem Civic Center in Uvalde.
Dario Lopez-Mills/AP/dpa

So musste etwa Angel Garza, Vater der 10-jährigen Jo, fast zehn quälende Stunden auf die erschütternde Nachricht vom Tod seiner Tochter warten. «Mein kleiner Liebling fliegt nun hoch oben, mit den Engeln über ihr», schrieb er auf Facebook.

Die Journalistin Niki Griswold berichtet aus dem Civic Center, die quälenden Schreie der Eltern habe man noch auf dem Parkplatz hören können.

«Sie brauchen eure Herzen nicht»

Während nun einmal mehr über die Waffengesetzgebung gestritten wird, kämpfen die Eltern der jungen Opfer nun gegen ein schier unüberwindbares Trauma. Wie schon so viele vor ihnen. 

Einer davon ist Manuel Oliver, auch er musste ein Kind zu Grabe tragen. Er verlor seine damals 17-jährige Tochter beim berüchtigten Parkland-Schulmassaker vor etwa vier Jahren.

«Ich kenne den Schmerz. Schrecklich. Dein ganzes Leben macht in diesem Moment keinen Sinn mehr», sagt Oliver dem US-Sender CBS. Und mit Verweis auf die «gebrochenen Herzen», mit denen viele Ihr Beileid bekundeten, sagt er: «Sie brauchen eure Herzen nicht. Sie brauchen ihre Kinder»

«Ich kann nicht aufhören, an die Eltern zu denken, die sich nun fragen müssen, wie sie eine Beerdigung organisieren oder es ihren anderen Kindern erklären sollen.»

Doch er sagt auch, direkt an die Eltern der Opfer gerichtet: «Sie haben nur einen kleinen Teil der Zeit, in der die Kameras vor Ihnen stehen. Sie werden nicht ewig da sein. Sie werden weiterziehen.» Bis zum nächsten Massenmord an einer Schule.

Schon die Kleinsten üben für den Ernstfall

An vielen US-Schulen lernen bereits die Kleinsten, wie sie sich während einer Schiesserei zu verhalten haben. Dort ist es längst üblich, regelmässige Shooter Drills abzuhalten, sie gehören zur Routine wie hierzulande etwa ein Feueralarm.

US-Schüler*innen hingegen trainieren das Verbarrikadieren von Türen mit Tischen und Stühlen, kauern sich schweigend in Ecken oder Toilettenkabinen zusammen.

Laut «New York Times» werden solche oder ähnliche Übungen an 95 Prozent aller US-Schulen regelmässig abgehalten. Einige Staaten fordern sie demnach per Gesetz, die Sicherheit an Schulen ist ein grosses Geschäft. Lehrerverbände fordern unterdessen ein Ende der Shooter Drills. Die Kinder würden dadurch höchstens verängstigt.

Ob die Tragödie von Uvalde etwas an der politischen Dynamik in der Waffendebatte ändern wird, ist indessen unklar — und darf durchaus bezweifelt werden. Schon nach dem Massenmord an der Primarschule Sandy Hook in Newtown gab es Appelle und politische Anläufe für ein schärferes Waffenrecht, die aber letztlich scheiterten.

Wie umstritten das Thema ist, zeigte sich am Dienstag bei einem Wahlkampfauftritt der Republikanerin Herschel Walker, die sich um einen Senatssitz bewirbt: Als bei ihrer Veranstaltung ein Videoclip mit Bidens Aufruf zu mehr Waffenkontrolle eingeblendet wurde, buhte die Menge.

Mit Material der Nachrichtenagentur AP.