Wutrede nach Massaker an Schule«Ich habe es satt, ich habe genug»
Von Christiane Jacke, Julia Naue und Juliane Rodust, dpa/amo
25.5.2022 - 12:09
18-Jähriger erschiesst Grundschulkinder
In einer Grundschule in Uvalde, im US-Bundesstaat Texas hat ein Mann zahlreiche Kinder und Erwachsene erschossen. Die Polizei geht von einem Einzeltäter aus.
25.05.2022
Täglich sterben in den USA Menschen durch Schusswaffen. Und immer greifen danach die gleichen Reflexe. Die Basketball-Legende Steve Kerr will das nicht mehr hinnehmen. Seine Wut und Verzweiflung entladen sich auf einer Medienkonferenz.
25.05.2022, 12:09
25.05.2022, 15:58
dpa
Das Massaker in der kleinen Stadt Uvalde in Texas lässt viele Amerikaner wieder einmal rat- und fassungslos zurück. Die Reaktionen fallen deutlich aus.
Der US-amerikanische Basketball-Meistertrainer Steve Kerr von den Golden State Warriors etwa reagierte auf einer Rede vor laufenden Kameras emotional auf das Massaker. «Wann werden wir etwas tun?», schrie Kerr in einer Pressekonferenz vor der Playoff-Partie bei den Dallas Mavericks am Dienstagabend. «Ich habe es satt, ich habe genug!»
Kerr, als Spieler an der Seite von Michael Jordan Meister mit den Chicago Bulls, wollte nicht über Basketball reden. Zitternd sagte der 56-Jährige: «Ich bin es leid. Ich bin es so leid, hier aufzustehen und den zerstörten Familien da draussen mein Beileid auszusprechen.» Immer wieder stockte Kerr die Stimme, mit der Hand schlug er mehrfach auf den Tisch.
Kerr forderte eine strengere Waffenkontrolle in den USA und richtete sich an 50 Senatoren, die das bislang verhindern würden. Der insgesamt achtmalige NBA-Champion spricht sich bereits seit längerem gegen Waffengewalt aus. Sein Vater war 1984 bei einem Terroranschlag in Beirut im Libanon erschossen worden.
Auch andere Sportler*innen und Prominente äusserten sich zu dem tragischen Ereignis. Popsängerin Taylor Swift wandte sich auf Twitter an ihre Fans. «Ich bin erfüllt von Wut und Trauer und so gebrochen durch die Morde in Uvalde. Durch Buffalo, Laguna Woods und so viele andere. Durch die Art und Weise, wie wir als Nation auf unfassbaren und unerträglichen Kummer konditioniert wurden», schrieb der Star und teilte dazu das Video von Kerr.
Filled with rage and grief, and so broken by the murders in Uvalde. By Buffalo, Laguna Woods and so many others. By the ways in which we, as a nation, have become conditioned to unfathomable and unbearable heartbreak. Steve’s words ring so true and cut so deep. https://t.co/Rb5uwSTxty
18-Jähriger stürmt Schulgelände während Unterricht
Die Welt in dem 16'000-Einwohner-Ort nahe San Antonio in Texas wurde am Dienstag jäh aus den Fugen gerissen. Nach Angaben des texanischen Gouverneurs, Greg Abbott, drang der 18-jährige Salvador Ramos während der Unterrichtszeit in das Schulgelände ein, eröffnete das Feuer und wütete, bis er selbst von Sicherheitskräften getötet wurde.
Ermittler gehen davon aus, dass der junge Mann allein handelte. Die grosse Frage nach dem Warum bleibt nach seinem Tod zunächst unbeantwortet. Wenige Stunden nach der Attacke versucht US-Präsident Joe Biden in Worte zu fassen, was viele Eltern in Uvalde womöglich fühlen: «Ein Kind zu verlieren, ist, als wenn einem ein Stück der eigenen Seele entrissen wird», sagt Biden unmittelbar nach seiner Rückkehr von einer Asien-Reise im Weissen Haus. Biden kennt diesen Schmerz: Er verlor als junger Mann seine erste Ehefrau und seine kleine Tochter bei einem Autounfall. Später starb einer seiner erwachsenen Söhne an Krebs. Es sei, als ob man ersticke, sagt Biden.
Dann redet sich der Präsident in Rage über eine Epidemie an Waffengewalt, die es sonst nirgendwo auf der Welt gebe, über irrsinnige Waffengesetze und jahrzehntelange Untätigkeit. «Ich habe es satt», klagt er. «Wir müssen handeln.» Das «Gemetzel» dürfe nicht immerzu weitergehen.
Biden erinnert an jene Attacke von 2012, die diesem Angriff in Texas auf so erschreckende Weise ähnelt: In Newton im Bundesstaat Connecticut drang damals ein 20-Jähriger mit schweren psychischen Problemen in seine frühere Grundschule ein und tötete 20 Schulkinder und sechs Lehrer, nachdem er zuvor seine Mutter erschossen hatte. Das Massaker an der Sandy Hook Elementary School stach selbst im Land der ständigen Schiessereien auf brutale Weise heraus.
Massaker änderten bisher nichts an Gesetzeslage
Doch wer dachte, dass die Waffenanhänger im Land spätestens nach diesem unfassbaren Verbrechen zur Vernunft kommen würden, der täuschte sich. Alle Versuche, die Waffengesetze in den USA deutlich zu verschärfen, schlugen nach dem Blutbad von Sandy Hook fehl.
Auch danach gingen die Amokläufe und Schiessereien weiter: in Schulen, in Supermärkten, in Kirchen, Synagogen. Allein im vergangenen Jahr zählte die US-Bundespolizei FBI 61 Amokläufe mit Schusswaffen im Land – etwa einer alle sechs Tage. Und das ist nur ein minimaler Ausschnitt. Das Ausmass an Waffengewalt insgesamt ist in den USA ungleich grösser. Pistolen und Gewehre sind extrem leicht zu kaufen. Laut Statistik der Gesundheitsbehörde CDC etwa wurden 2020 in den USA rund 20 000 Menschen erschossen – mehr als 50 pro Tag.
Amerika dürfe die tägliche Waffengewalt nicht einfach akzeptieren, fordert eine Mutter, die 2012 ihren kleinen Sohn bei dem Amoklauf an der Sandy-Hook-Grundschule verlor, im Interview des Senders CNN. «Man kann sich nicht vorstellen, was die Eltern dort gerade für einen Horror durchleben», sagt sie mit Blick auf Uvalde. «Ich weiss nicht, wie viel mehr unser Land noch aushalten kann.»
Wenn es um eine Verschärfung der Gesetze geht, zeigt Präsident Biden mit dem Finger auf den US-Kongress. Denn für weitreichende Gesetzesänderungen fehlen Bidens Demokraten die nötigen Stimmen im US-Senat. Viele Republikaner lehnen schärfere Regulierungen ab: Das Recht auf Waffenbesitz ist für viele Konservative in den USA eine Art Heiligtum, der Inbegriff von Freiheit, ein Grundrecht, das nicht anzutasten ist.
Über 230 Jahre altes Gesetz bekräftigt Waffenbesitz
Der private Waffenbesitz beruht auf der historischen Rechtsgrundlage des Zweiten Verfassungszusatzes von 1791. Darin heisst es: «Da eine gut ausgebildete Miliz für die Sicherheit eines freien Staates erforderlich ist, darf das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, nicht beeinträchtigt werden.»
Nach dem Amoklauf an einer Schule in Newtown im US-Bundesstaat Connecticut im Dezember 2012 hatte der damalige US-Präsident Barack Obama schärfere Waffengesetze zu einem innenpolitischen Hauptanliegen erklärt. Der US-Demokrat äusserte sich nun auch nach dem Massaker in Texas: «Unser Land ist gelähmt, nicht durch Angst, sondern durch eine Waffenlobby und eine politische Partei, die keine Bereitschaft gezeigt haben, in irgendeiner Weise zu handeln, um diese Tragödien zu verhindern.»
Videografik: Schusswaffen in den USA
Videografik: Schusswaffen in den USA
25.05.2022
Für Waffenlobby sind nicht die Waffen, sondern deren Besitzer das Problem
Die Waffenlobby in den USA ist enorm mächtig. Besonders im konservativen Süden, in Texas, findet sie seit jeher viel Gehör. Direkt nach der Bluttat in Uvalde stiegen Republikaner in die Debatte einmal mehr damit ein, dass nicht Waffen das Problem seien, sondern lediglich einzelne ihrer Besitzer.
Wenn man diese Art von Verbrechen verhindern wolle, müsse man «Straftäter und Flüchtige und Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen verfolgen, verhaften und strafrechtlich belangen, wenn sie versuchen, illegal Schusswaffen zu kaufen», sagte der texanische Senator Ted Cruz dem Sender CNN. Die Bürger in ihren verfassungsmässigen Rechten beim Waffenbesitz einzuschränken, sei «nicht effizient», so Cruz. Sinnvoll dagegen sei mehr bewaffnetes Sicherheitspersonal auf Schulgeländen.
Der Generalstaatsanwalt von Texas, Ken Paxton, brachte die ebenfalls nicht neue Idee einer Bewaffnung von Lehrkräften für mehr Schulsicherheit an. Dem konservativen Nachrichtensender Newsmax sagte er, «Lehrer und Verwaltungskräfte, die ein Training absolviert haben und bewaffnet sind», könnten Leben retten.
«Was machen wir?»
Auf demokratischer Seite kochen die Emotionen darüber hoch, dass sich trotz der Debatte, die bei jedem neuen Shooting angeheizt wird, nichts verändert. Senator Chris Murphy liess seinem Frust über den politischen Stillstand freien Lauf: «Was machen wir?», fragte er in der Kongresskammer. An seine Senatskollegen gerichtet wetterte er: «Warum machen Sie sich die Mühe, diesen Job zu bekommen (...), wenn Ihre Antwort lautet, dass wir nichts tun, während diese Metzelei zunimmt und unsere Kinder um ihr Leben rennen?»
Murphy kommt aus Connecticut, dem Bundesstaat des Sandy-Hook-Massakers. Die Waffengewalt sei eine Besonderheit der USA, meint er. «Nirgendwo sonst gehen kleine Kinder mit dem Gedanken zur Schule, dass sie an diesem Tag erschossen werden könnten», sagte der US-Demokrat. «Es ist unsere Entscheidung, ob das weitergeht.»
Von Christiane Jacke, Julia Naue und Juliane Rodust, dpa/amo
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